Afghanistan-Experte: Taliban-Vormarsch kaum noch aufzuhalten

Frankfurt a.M. (epd). Die afghanische Armee kann dem gegenwärtige Vormarsch der Taliban nach Einschätzung des Afghanistan-Experten Thomas Ruttig nicht mehr viel entgegensetzen. „Die Stärke der Taliban ist zu großen Teilen das Ergebnis der Schwäche der Regierung und ihrer Truppen“, sagte der Ko-Direktor des Afghanistan Analysts Network dem Evangelischen Pressedienst (epd) am Mittwoch. Der Aufbau effektiver Streitkräfte durch die internationale Militärallianz sei „total fehlgeschlagen“.

Seit dem Beginn einer Offensive Anfang Mai erobern die Taliban am Hindukusch derzeit immer mehr Territorium. In der vergangenen Woche hatten die radikal-islamischen Kämpfer mehrere der insgesamt 34 Provinzhauptstädte eingenommen. Ruttig zufolge sind die afghanischen Soldaten zwar gut ausgerüstet, aber es fehle an Kampfmoral in der Truppe. Die Armee habe den Taliban viele Städte und Gebiete widerstandslos überlassen, sagte der Mitgründer der Denkfabrik Afghanistan Analysts Network.

Die afghanischen Soldaten hätten sich von dem plötzlichen und bedingungslosen Abzug der internationalen Truppen im Stich gelassen gefühlt, sagte Ruttig. Zudem seien viele Menschen aus Mangel an Alternativen und wegen der vergleichsweise guten Bezahlung zur Armee und Polizei gegangen. Nach Ablauf ihrer Verträge hätten die meisten Soldaten diese nicht verlängert. „Im Grund genommen musste alle drei Jahre eine neue Armee aufgebaut werden.“ Es habe nicht funktioniert, eine Berufsarmee nach westlichem Vorbild zu bilden.

Noch nicht absehbar ist Ruttig zufolge, ob die Taliban versuchen werden, Kabul militärisch einzunehmen. Es könne auch sein, dass die radikal-islamische Gruppe ab einem gewissen Punkt eine politische Abmachung anstrebe, um sich einen verlustreichen Kampf um die Hauptstadt zu ersparen. Allerdings könnten die Taliban der Regierung aufgrund ihrer gegenwärtigen Stärke bei Verhandlungen die Bedingungen für einen Friedensvertrag diktieren. Bei einer Machtübernahme der Taliban drohten Einschnitte bei den demokratischen Freiheiten und den Frauenrechten, warnte Ruttig.

Zugleich wandte sich der Afghanistan-Analyst gegen einen erneuten internationalen Militäreinsatz. „Dafür ist es zu spät.“ Luftschläge auf von den Taliban kontrollierten Städten würden auch die Zivilbevölkerung treffen. Ohnehin hätten Bombenangriffe auf die Taliban und die gezielte Tötung von Kämpfern die radikal-islamische Miliz nicht gestoppt. „Die Taliban sehen den Sieg in Reichweite und werden jetzt nicht aufhören.“