Äthiopien: Kriegsgefahr beim Friedensnobelpreisträger

Nairobi/Addis Abeba (epd). Es ist ein seit langem schwelender Konflikt, der sich nun in heftigen Kämpfen entlädt: In Äthiopien nehmen die Auseinandersetzungen zwischen der Zentralregierung unter Ministerpräsident Abiy Ahmed und der regionalen "Volksbefreiungsfront von Tigray" (TPLF) im Norden zu, das Land steht am Rande des Bürgerkrieges. Schon am Freitag bestätigte Abiy im staatlichen Fernsehsender EBC, dass die äthiopische Luftwaffe Ziele in Mekelle angegriffen hat, der Hauptstadt von Tigray. Am Wochenende gingen die Kämpfe offenbar weiter. Einzelheiten sind nur schwer in Erfahrung zu bringen, da die Zentralregierung Medienberichten zufolge Telefon und Internet in Tigray abgestellt hat.

Der Konflikt in dem ostafrikanischen Vielvölkerstaat mit gut 105 Millionen Einwohnern eskalierte Mitte vergangener Woche. Abiy warf der TPLF vor, einen Kommandoposten der Armee in Mekelle eingenommen zu haben - was die TPLF-Führung bestreitet. Abiy erklärte, die Regionalregierung von Tigray habe damit "eine rote Linie überschritten", und er habe den äthiopischen Truppen befohlen zu handeln. Das Kabinett in Addis Abeba verhängte über die Region einen sechsmonatigen Notstand.

Der mutmaßliche Angriff war wohl der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte - regionale Wahlen in Tigray hatten zuletzt im September die schon lange schwelende Krise befeuert. Eigentlich hätten im August im ganzen Land Parlamentswahlen stattfinden sollen, sie wurden aber wegen der Corona-Pandemie auf das kommende Jahr verschoben. Die Regionalregierung von Tigray sprach daraufhin Parlament und Regierung des Zentralstaates die Legitimation ab und ließ im Alleingang trotzdem wählen. Addis Abeba erkennt die Regierung, die daraus hervor gegangen ist, seinerseits nicht an.

Letztlich geht es bei dem Konflikt um die Machtverteilung in dem Land mit seinen rund 80 Volksgruppen, und um die Legitimation von Abiys Regierung. Der 44-Jährige kam 2018 an die Macht, nachdem sein Vorgänger Hailemariam Desalegn überraschend seinen Rücktritt bekanntgegeben hatte. Hailemariam war Mitglied der TPLF, der stärksten Macht innerhalb der Parteienkoalition, die Äthiopien seit 1991 mit harter Hand regierte.

Dem Machtwechsel 2018 waren jahrelange landesweite Proteste gegen die Regierung vorausgegangen. Getragen wurden sie vor allem von der größten äthiopischen Volksgruppe, den Oromo. Abiy übernahm am 2. April 2018 als erster Oromo das Amt des Regierungschefs und galt zunächst als Hoffnungsträger vor allem seiner Volksgruppe, die etwa ein Drittel der Bevölkerung stellt. Ein Hoffnungsträger auch, weil die äthiopische Regierung unter seinen Vorgängern zwar formal eine Demokratie gewesen, aber sehr repressiv gegen Kritiker vorgegangen war. Abiy klang anders, versprach weitreichende Reformen.

Tatsächlich hat selten jemand in so kurzer Zeit so viele politische Veränderungen bewirkt. Unter anderem hob Abiy den lange geltenden Ausnahmezustand auf, erlaubte bis dahin verbotene Medien und Parteien, kündigte freie Wahlen an und ließ Tausende politische Gefangene frei. Und er schloss im Juli 2018 einen Friedensvertrag mit dem benachbarten Eritrea, für den er mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.

Doch schon mit Abiys Amtsantritt begannen die Spannungen zwischen der Zentralregierung und der TPLF, die von ihrer jahrzehntelangen Macht nicht lassen wollte. Auch in anderen Regionen nimmt der Widerstand gegen Abiys Politik zu. Zu dessen Reformagenda gehört, dass er den Staat stärker zentralisieren will. Die TPLF, Oromo-Aktivisten und Vertreter anderer Volksgruppen wollen dagegen mehr Autonomie und mehr Rechte als bisher.

Abiy will die Fokussierung auf die ethnische Zugehörigkeit jedoch auf jeden Fall beenden. Vor rund einem Jahr löste er die bis dahin größte und reichste politische Partei Afrikas auf, die ehemalige Regierungspartei EPRDF (Revolutionäre Demokratische Front Äthiopischer Völker). Sie war faktisch eine Koalition aus ethnisch geprägten politischen Parteien. An ihre Stelle setzte Abiy die "Wohlstandspartei" (PP), in dieser werden die Mitglieder nicht mehr nach ihrer Volksgruppenzugehörigkeit unterschieden. Die TPLF trat der neuen PP nicht bei. 

Seit 2018 eskalieren auch zwischen anderen Volksgruppen untereinander die Spannungen, Äthiopien droht zu zerbrechen. Auf den zunehmenden Druck von vielen Seiten reagiert Abiy mit immer härterer Repression.