„Zeitenwende“…? Unsere Wahrnehmung und unser Auftrag (2022)
Zur Einleitung:
Am 06./07.Mai 2022 hat sich die Landessynode der Nordkirche ausschließlich auf den Ukrainekrieg und seinen Folgen konzentriert. Die geplante Tagesordnung wurde ausgesetzt, weil die Not durch die kriegerische Aggression so groß und die daraus erwachsenen Fragen so drängend waren. In offenen Diskussionen, zumeist an 8er-Tischen sitzend, angeregt durch Impuls von Referentinnen und Referenten, suchten die Synodalen gemeinsam nach Antworten. Das Material der Beratungen wurde stichwortartig auf Moderationskarten festgehalten. Die Synode beauftragte den Ausschuss „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“, dieses Material aufzuarbeiten und wichtige Erkenntnisse der Synodaltagung festzuhalten. Der Synode wird im November 2022 dieses Papier vorgelegt werden.
Der vorliegende Text nimmt folglich den Diskussionsstand der Synode im Frühsommer 2022 auf. Die Anliegen sind dringlich. Wahrnehmungen, Selbstverpflichtungen und Appelle sind dabei genau in dieser Zeit verortet. Wir wissen, dass sich schon Wochen später Diskussionslinien verändern können. Gerade deshalb ist dieser Text als engagierter Zwischenstand von Bedeutung. Er stellt veränderte Diskussionslagen und Erkenntnisgewinne dar.
Weil die Nordkirche eine lernende Kirche ist, entwickeln sich Positionen weiter. Ihre Haltung zur Friedensfrage muss auf immer wieder neue Herausforderungen reagieren. Darin folgt sie dem, der vor aller Zeit war und das Ende der Zeit bestimmen wird: Christus.
Der Ausschuss „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“, Friedemann Magaard, Vors.
„Zeitenwende“…? Unsere Wahrnehmung und unser Auftrag
Einschätzungen und Erkenntnisse vom Mai 2022
Unsere Wahrnehmung:
Die Lebenssituation der Menschen in unserer Gesellschaft ist durch eine Vielzahl gleichzeitig dramatischer Probleme bestimmt, die in vieler Hinsicht Sorgen und auch Angst bereiten und Lebenssicherheit beeinträchtigen. Gründe dafür sind der Krieg in der Ukraine, die Klima-Krise und mehr.
Viele Menschen, besonders die ältere und die jüngere Generation, in unserem Land sind von Gefühlen der Ohnmacht und des Verlusts an Selbstwirksamkeit bestimmt.
Viele Ältere, die aus der eigenen Familie Erzählungen von Krieg, Flucht und Vertreibung kennen oder dies selbst hautnah miterlebt haben, sowie Zugewanderte aus Kriegsgebieten erleben durch den Ausbruch des Krieges in der Ukraine eine Retraumatisierung.
Aber auch viele junge Menschen fühlen sich in der gegenwärtigen Situation ausgeliefert. Nach zwei Jahren Isolation und Selbstisolation durch die Corona-Pandemie ziehen sie sich nun angesichts der Erfahrungen von Lebensunsicherheit in sich selbst oder in den engsten Kreis vertrauter Menschen zurück.
Es droht ein allgemeiner Verlust an Lebensgewissheit – wobei Abkehr von der Lebendigkeit und Konflikthaftigkeit des Lebens („was geht das alles mich an?“) ebenso mögliche Reaktionsweisen sind wie Rückzug in bzw. Überwältigtwerden durch Depression.
In der gegenwärtigen krisenhaften Entwicklung – Verteuerung von Lebensmitteln, Energie und Mieten, Pandemie, Krieg in der Ukraine, weltweite ökonomische, politische und soziale Verwerfungen – droht auch denjenigen mit bislang bescheidenem Auskommen, dass sie aufgeben müssen, was sicher geglaubt, für erreichbar gehalten und langfristig geplant war. Allen, die bereits eingeschränkt und in Armut leben, droht weiterer Existenzentzug.
Einstellungen und Verhaltensbereitschaften gewinnen zunehmend an Einfluss, die eine realistische Wahrnehmung von Konflikten und Problemen erschweren und sogar unmöglich machen. Die Welt wird in „gut“ und „böse“ unterteilt. Die sozialen Netzwerke des Internet zeichnen sich dadurch aus, dass Meldungen ungeheuer schnell verbreitet werden, ohne dass sie überprüft werden können. Manipulativen Kräften eröffnet dies beunruhigende Möglichkeiten.
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine verstärkt globale Probleme und Konflikte, die schon lange vorher die Lebenssicherheit, ja das Leben von Millionen Menschen vor allem in den Ländern des globalen Südens, bedrücken, gefährden und zunehmend zunichtemachen. Dazu gehören eine globale Nahrungsmittelkrise, eine Schuldenkrise, zunehmende Fluchtbewegungen sowie die Zerstörung von Natur und Lebensräumen.
Unser Auftrag:
Armut bekämpfen: Die Nordkirche ist aus der biblischen Tradition herausgefordert, sich politisch für eine Wirtschaftsweise einzusetzen, die am Gemeinwohl orientiert ist. In Verbindung mit anderen gesellschaftlichen Akteur*innen muss sich die Nordkirche – auch in öffentlichen Debatten - für eine gerechtere Verteilung der materiellen und der immateriellen Güter stark machen.
Armut stellt nicht nur ein materielles Problem für die Betroffenen dar. Verarmung bedeutet Ausschluss aus gesellschaftlicher Teilhabe, auch von politischen und kulturellen Partizipationsmöglichkeiten. Armut ist für die davon betroffenen Menschen oft mit Scham verbunden. Wer arm ist, wird einsam. Wer arm ist, wird unsichtbar. Bildungschancen werden nicht wahrgenommen – und können auch häufig nicht wahrgenommen werden. Oft ist ungezielte Wut ein Ausdruck von Ohnmacht und größtem inneren Druck.
Der Zusammenhang zwischen sozialem Frieden und politischem Frieden gehört ins Zentrum der politischen Agenda – in unserer Gesellschaft, aber auch global in den Beziehungen der immer noch reichen Gesellschaften zum globalen Süden.
Die globale Nahrungsmittelkrise ist nicht erst mit dem Ukraine-Krieg entstanden. Schon lange haben Lebensmittelspekulationen einen Einfluss auf steigende Lebensmittelpreise und sind damit mitverantwortlich für den zunehmenden Hunger in der Welt. Nach dem kriegsbedingten Wegfall der ukrainischen Getreidelieferungen ist nun das Problem besonders verschärft worden.
Armut explodiert im globalen Maßstab, besonders im Süden unseres allen gemeinsamen Planeten. Gegen diese Entwicklung müssen Trends umgekehrt und Perspektiven, aber auch Handlungen effektiv ins Werk gesetzt werden. Rasant steigende globale Rüstungsausgaben sind der falsche Weg. Die Schuldenkrise der armen Länder darf nicht die Armut-Reichtum-Polarisierung verschärfen und zur weiteren Anhäufung von Gewinnen führen: Faire Entschuldungsprozesse sind dringend notwendig, damit die Grundrechte der Menschen geschützt werden. Der Zusammenhang von globaler Armut und Gewalt muss durchbrochen werden.
Für die Wahrheit eintreten: Die Nordkirche tritt für den Erhalt und die unbeeinträchtigte Arbeitsmöglichkeit eines freien und der Wahrheit verpflichteten Journalismus ein. Neben anderen Medien sehen und stützen wir die besondere Bedeutung und beispielgebende Verantwortung von auskömmlich finanzierten öffentlich-rechtlichen Medien.
„Was ist Wahrheit?“ – seit der Passionsgeschichte des Jesus von Nazareth ist die Frage nach der Wahrheit und der Einsatz für die Ermöglichung von Wahrhaftigkeit in den Informationswelten Gebot und Aufgabe für eine Kirche, die ihren Grund in der Geschichte von Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi hat – und diesen Grund ihres Lebens immer neu zur Gestalt bringen muss.
Das Verständnis für die globalen Konfliktfelder – Naturzerstörung infolge des Klimawandels, Armut, Krieg – in ihrer Komplexität und in ihrer wechselseitigen Vernetzung muss wachsen. Der dazu nötigen intensiven Bildungsarbeit sieht sich die Nordkirche weiterhin verpflichtet.
Solidarität mit Geflüchteten: Jedes geschundene menschliche Antlitz fordert die Solidarität und Unterstützung der Nordkirche. So wichtig und verständlich gegenwärtig die Aufmerksamkeit auf die Geflüchteten aus dem Ukraine-Krieg ist (Stand Frühsommer 2022) – es ist entscheidend, dass in den Unterstützungs- und Integrationsanstrengungen keine Zwei- oder Viel-Klassen-Unterscheidung gemacht wird.
Für Geflüchtete mit Schutzstatusmüssen tragfähige Bleibeperspektiven angeboten werden. Für die Geflüchteten müssen je nach Lebenssituation und Problemlage passgenaue Hilfen entwickelt werden – zum Beispiel, indem bei fehlenden Kita-Plätzen Spielgruppen unbürokratisch finanziert werden. Best-Practice-Beispiele ermutigen und regen zur Nachahmung an.
Zugleich dürfen Probleme und Konflikte auch in diesem Feld der Solidaritätsarbeit nicht übersehen werden: Überforderung oder Grenzüberschreibungen Ehrenamtlicher, Konflikte zwischen Geflüchteten unterschiedlicher Lebensformen und Religion, Anfeindungen und rassistische Übergriffe Geflüchteten und ihren Unterstützenden gegenüber. Solche Probleme müssen ernstgenommen und moderiert werden.
Den gerechten Frieden nicht aufgeben: Die Nordkirche hinterfragt konsequent und kritisch den Einsatz von Gewalt. Sie stützt den Vorrang gewaltfreier und ziviler Methoden der Konfliktbearbeitung. Das Ziel aller politischen Anstrengungen ist der gerechte Friede und eine atomwaffenfreie Welt. Die Nordkirche verurteilt den Angriffskrieg der russischen Regierung als völkerrechtswidrige kriegerische Aggressionen gegenüber der Ukraine und aller mittelbar betroffenen Staaten. Sie anerkennt das legitime Selbstverteidigungsrecht der Ukraine und hält Waffenlieferungen in dieser speziellen politischen Konstellation für vertretbar. Sie erwartet, dass alle politischen und militärischen Maßnahmen fortwährend und stets aufs Neue auf ihre Verhältnismäßigkeit geprüft und auf die Linderung von Leid und die Beendigung des Krieges ausgerichtet sind.
Wer den Frieden will, muss vor allem den Frieden vorbereiten. Der gerechte Friede muss das Ziel der politischen Anstrengungen in der Ukraine und in Russland sein, in dem Verständnis, dass ein solcher gerechter Friede nicht durch Waffen erzwungen, sondern aus Gerechtigkeit und Recht, das Menschenrechte einschließt, sowie aus Vertrauen und Versöhnung erbaut werden wird.
Wir halten die Vereinten Nationen für eine unabdingbar notwendige weltumspannende und Welt-einende Institution. Wir setzen uns dafür ein, den Vereinten Nationen die Macht, die demokratischen Strukturen und die institutionelle Funktionsfähigkeit zu verleihen, die sie wirkungsvoll machen, zum Beispiel durch die dringende Reform des UN-Sicherheitsrates als des zentralen politischen Macht- und Entscheidungsgremiums.
Auf dem Weg als eine Kirche der Gerechtigkeit und des Friedens: Die Nordkirche versteht es als Aufgabe der weltweit verbundenen Kirchen, in ökumenischer Gemeinschaft und in der Suche nach Kooperationsmöglichkeiten mit anderen Religionen und nichtreligiösen Akteur*innen gemeinsam für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung einzutreten und auf eine Welt hinzuarbeiten, „in der Gerechtigkeit und Frieden sich küssen“ (Ps 85, 11)
Die Soldat*innen der Bundeswehr, die in angespannter und ungewisser Lage den Auftrag des Deutschen Bundestags in den Einsatzgebieten und zum Schutz der verbündeten Staaten wahrnehmen, sowie deren belasteten und besorgten Familien gilt unsere solidarische Unterstützung und seelsorgerische Begleitung.
Voller Hoffnung sein: Wir leben als Christ*innen in der Hoffnung auf Gottes Vergebung: Im Zentrum des Glaubens der evangelischen Christenheit steht der Glaube daran, dass Gott den Menschen, der von Gott, von anderen Menschen und Geschöpfen und von sich selbst entfremdet und getrennt ist, gerecht spricht. Gottes zärtlicher Blick gilt nicht primär denen, die alles richtig machen. Gott schenkt sein Erbarmen allen, die im Wissen um die Unmöglichkeit eigener Schuldlosigkeit ihr Leben führen und sich mit ihrer kleinen Kraft für ein lebenswürdiges Leben einsetzen – für sich selbst und für die gesamte Schöpfung. Aus diesem Glauben können wir leben.
Es liegt eine große Versuchung darin, sich in dieser Lage einer resignativen Weltabwendung zu ergeben. Wir müssen uns einem Rückzug ins Private sowie der zynischen Distanzierung von Problemen und Lösungen kraftvoll verweigern.
Nutzen wir als Christ*innen unsere persönlichen Kontakte, an welchem Ort wir auch leben und arbeiten – in den Kirchen, Schulen, Universitäten, Fabriken, Behörden, Unternehmen, Kultureinrichtungen, in den Clubs und Gasthäusern, in den sozialen Diensten und Unterstützungsinitiativen, wo auch immer! Lassen wir uns nicht den Mut nehmen, jederzeit laut die eigene Meinung zu sagen – und Angst vor Peinlichkeitsgefühlen ebenso zu überwinden wie Angst vor Repression.
Es gibt kein Leben ohne Schuld. Es gibt keine Lösungen ohne Schuld – auch in weniger krisenhaften gesellschaftlichen und historischen Lagen. Wir halten die Not aus, sich gegebenenfalls zwischen Schuld und Schuld positionieren zu müssen. Im Wissen um die eigene Begrenztheit vertrauen wir umso stärker auf Christus, der Schuld und Tod überwunden hat und uns das Leben in Fülle zuspricht.
„HERR, mache mich zum Werkzeug deines Friedens,
dass ich Liebe übe, wo man sich hasst,
dass ich verzeihe, wo man sich beleidigt,
dass ich verbinde, da, wo Streit ist,
dass ich die Wahrheit sage, wo der Irrtum herrscht,
dass ich den Glauben bringe, wo der Zweifel drückt,
dass ich die Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält,
dass ich ein Licht anzünde, wo die Finsternis regiert,
dass ich Freude mache, wo der Kummer wohnt.“
Einige Empfehlungen zum Weiterlesen:
„Wir suchen den Frieden und jagen ihm nach, denn wir sind gewiss: Selig sind, die Frieden stiften.“
Erklärung der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland
6. – 7. Mai 2022
#redenüberfrieden
Beschluss der Landessynode der Ev.-Luth. Kirche in Norddeutschland
18. September 2021
darin Anlage 2
#redenüberfrieden
Texte zu den Workshops und Beschlussvorschlag
17. September 2021
„Kirche auf dem Weg der Gerechtigkeit und des Friedens
Lass ab vom Bösen und tue Gutes; suche Frieden und jage ihm nach! (Ps 34,15)“
Kundgebung der 12. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland
auf ihrer 6. Tagung, 13. November 2019
„Gerechter Frieden“
Positionspapier der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland
16. – 18. November 2017
Fernando Enns
„Behutsam mitgehen mit deinem Gott. Der Ökumenische Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens – als Neuausrichtung der Ökumenischen Bewegung“
Ökumenische Rundschau 1/2015
Message of the 10th Assembly of the WCC
Join the Pilgrimage of Justice and Peace
30 October to 8 November 2013, Busan, Republic of Korea
„Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen“
Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland
2007