Wo stehen wir friedensethisch im Raum der Evangelischen Kirche in Deutschland? (2023)

Wo stehen wir friedensethisch im Raum der Evangelischen Kirche in Deutschland?

Von Friedrich Kramer, Landesbischof der Ev. Kirche in Mitteldeutschland und Friedensbeauftragter des Rates der EKD

Vor etwas mehr als einem Jahr befürwortete noch die Mehrheit der leitenden Geistlichen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), dass die neue Bundesregierung die Maxime, keine Waffen in Kriegs- und Krisengebiete zu liefern, dezidiert in den Koalitionsvertrag aufgenommen hatte – eine Maxime, die von beiden Volkskirchen lange schon in großer Einhelligkeit gefordert worden war. Auch ich als neu berufener Friedensbeauftragter des Rates der EKD habe mich im Januar 2022 voll hinter diesen Punkt des Koalitionsvertrages gestellt.

Dann erfolgte der brutale russische Angriff auf die Ukraine, mit dem sich vieles geändert hat. Trotz des eklatanten Bruchs des Völkerrechts, bin ich bei der ursprünglichen Position der Bundesregierung geblieben, doch diese hat ihre Position geändert und liefert nun Waffen an die Ukraine. Es war und ist eindrücklich, wie schnell eine sicherheitspolitische „Zeitenwende“ ausgerufen wurde und wie die Aufrüstung der Ukraine aktuell in großen Schritten weitergeht. Letzteres geschieht zwar immer auch bedachtsam und vorsichtig – man spürt, niemand in unserem Land will in diesen Krieg hineingezogen werden – doch die Kriegsfragen, die Kriegsaufregung und die auf das Freund-Feind-Schema reduzierten Kriegsnarrative drohen auch bei uns die Debatten zu beherrschen. In Kriegszeiten kennt man nur noch Gut und Böse, Freund und Feind, richtig und falsch; Zwischentöne und Zwischenstufen werden kaum wahrgenommen.

Gerade als Kirche dürfen wir das für die öffentliche Debatte in unserem Land und darüber hinaus nicht hinnehmen, denn wir sind nicht im Krieg – weder mit Russland, noch mit einem anderen Land. Wir wollen auch nicht in diesen Krieg eintreten. Aber wir sind nun massiv involviert und inzwischen mit den beschlossenen Panzerlieferungen innerhalb Europas nach Großbritannien das zweitgrößte Unterstützerland für die Ukraine. Daran haben sich in unserer Gesellschaft und auch innerhalb unserer Kirche verständlicherweise hitzige Debatten entzündet. Ich sehe es als eine wesentliche Aufgabe der Kirchen an, diese Debatten umfänglich wahrzunehmen, ihnen Raum zu geben und in einen breiten, konstruktiven Dialogprozess zu überführen.

Bevor ich auf die ethischen Debatten um Waffenlieferungen genauer eingehe, möchte ich die große Relevanz gelebter Friedenspraxis in unserem Land hervorheben und damit zwei andere, wichtige Formen der Unterstützung der Ukraine:

Zum einen die echte Nothilfe, die humanitäre Hilfe, die viele Menschen den Opfern des Krieges vor Ort und hier bei uns unter großem Einsatz zukommen lassen. Unzählige Einzelpersonen, Gruppen und Gemeinden organisieren Spendenaktionen oder haben Flüchtlinge bei sich aufgenommen, ihnen Wohnräume vermittelt und sie beim Ankommen in unserer Gesellschaft begrüßt und begleitet. Das ist großartig und allen, die das tun, ist von Herzen zu danken. Ich nehme auch wahr, dass unsere ökumenischen Partner in den mittelosteuropäischen Ländern, in der Slowakei, in Polen und Rumänien, in gleicher Weise Dienst tun. Auch dort spürt man eine große Verbundenheit mit den Menschen der Ukraine. Unsere Partner darin zu unterstützen ist selbstverständlich.

Große Bedeutung haben zum anderen auch die Friedensgebete, die sogleich mit Beginn des Krieges an vielen Orten stattgefunden haben. Intensiv wurde hier gebetet – oft gemeinsam mit ukrainischen und russischen Menschen. Das sind – das konnte ich kürzlich noch einmal in der Frauenbergskirche von Nordhausen bei einer Gedenkfeier zum Jahrestag des Angriffs auf die Ukraine eindrücklich miterleben – wichtige Anlässe, um das anhaltende Leid, die Ängste und die Bedürfnisse der Geflüchteten wahrzunehmen, ihnen Raum und Stimme zu geben und unser Mitgefühl zu zeigen; aber auch um Verhärtungen oder allzu nationalistischen Tönen entgegenzuwirken. Ich werde nicht müde, landauf, landab zu betonen, dass es dies weiter fortzusetzen gilt. Denn wir erleben, dass die Debatten zwar heiß bleiben, aber unsere Gebetsintensität nachlässt. Doch gerade in diesen aufgeregten Zeiten brauchen wir das Gebet und unsere ukrainischen Gäste brauchen Räume, in denen ein Ausatmen und Nachdenken, Weinen und Beten Platz hat. Wir können das ins Gebet nehmen, was wir nicht ändern können, und Gott anflehen, dass er es ändert. Wir können darum beten, dass wir wach sind für die Opfer, die brutale Kriegshandlungen erleiden müssen – in der Ukraine, aber auch in über zwanzig weiteren Kriegsgeschehen der Welt. Im Friedensgebet können wir zur Ruhe kommen, denn durch die permanente mediale Wahrnehmung des Krieges und seiner schrecklichen Bilder sind unsere Seelen unruhig und verstört. Und wir können Ukrainerinnen Räume zur Verfügung stellen, das sie sich treffen und stärken können, wie es an vielen Orten geschieht.

Doch nun zur Frage der Waffenlieferungen. Der nachvollziehbare Zustand der meisten Christinnen und Christen in dieser Frage scheint mir ein Zustand der Zerrissenheit zu sein: Einerseits fühlen wir uns solidarisch mit den Menschen in der Ukraine und haben das starke Bedürfnis zu helfen, das bis hin zur Forderung nach immer umfänglicheren Waffenlieferungen reichen kann – im Wissen darum, dass Waffen töten. Andererseits fühlen wir uns dem klaren Gebot Jesu Christi verpflichtet, dem Bösen nicht mit Bösem zu widerstehen, das Schwert wegzustecken und die Feinde zu lieben, ja sogar: diejenigen, die uns verfluchen, zu segnen. Da tut sich eine Spannung auf, die ernst zu nehmen ist und durch den Hinweis auf ‚neue Realitäten‘ nicht einfach aufzulösen ist.

Relativ schnell nach dem brutalen Angriff auf die Ukraine haben einige Systematiker und Theologinnen behauptet, die bisherigen ethischen Erkenntnisse hätten sich erübrigt, man könne am Leitbild des „Gerechten Friedens“ so nicht mehr festhalten. Von „Ponyhof-Theologie“ war die Rede. Man sei jetzt in der Wirklichkeit, eben bei den ‚neuen Realitäten‘ angekommen. Oft wurde jetzt die Kritik, die schon seit Jahren an der friedensethischen Diskussion der EKD geübt wurde verstärkt. Die EKD hatte 2019 mit der „Friedenssynode“ in Dresden einen stärker pazifistischen Weg eingeschlagen. In ihrer Kundgebung hatte sie zwar den Einsatz rechtserhaltender Gewalt als äußerstes Mittel (ultima ratio) „unter engen Kriterien für legitim“ erklärt, doch zugleich klar formuliert, dass auch er „immer eine Niederlage [ist] und uns vor die Frage [stellt], ob wir im Vorfeld alles zur Prävention und gewaltfreien Konfliktlösung getan haben“, die stets die ersten Mittel sein müssen. Zudem erfolgte die Aufforderung an den Rat der EKD, sich bei der Bundesregierung dafür einzusetzen, dass Deutschland dem Atomwaffenverbotsvertrag beitritt.

Und nun wurde mit der sicherheitspolitischen auch die friedensethische ‚Zeitenwende‘ ausgerufen. Das hat viele Christenmenschen in unserem Land verunsichert. Angesichts dessen, dass die Bundesregierung über Nacht ein 100-Millardenprogramm zur Aufrüstung der Bundeswehr aufgelegt hat und Deutschland jetzt mit einer schlagkräftigen Armee eine Führungsrolle bei der Verteidigung Europas übernehmen soll, fragen sie sich: Was heißt das für uns, für das, was wir gelernt haben, als evangelische Kirche hier in Deutschland, in der Aufarbeitung zweier Weltkriege, im Streit um die Wiederbewaffnung, in der Diskussion über den NATO-Doppelbeschluss, in der friedlichen Revolution? Und welche Rolle hat die Kirche bei all dem zu spielen? Muss sie stärker für die aktuellen politischen Debatten anschlussfähig werden oder nicht eher das prophetische Wort mit dem Ruf zur Gewaltlosigkeit und zum Frieden stark machen?

Nach und nach hat es dann eine große Veränderung auch in der Wahrnehmung der leitenden Geistlichen gegeben. Zunehmend wurde eingeräumt, dass man die Argumente für Waffenlieferungen nachvollziehen und verstehen könne. Das wurde medial gerne zugespitzt, wenn etwa sinnverkürzend getitelt wurde, dass Waffenlieferungen ‚begrüßt‘ würden. Die mediale Debatte hat schnell Fahrt aufgenommen, weil auch ich zahlreiche Interviews gegeben habe, in denen deutlich geworden ist, dass ich zwar der Beauftragte des Rates der EKD bin, aber eine eigene Position vertrete. Es hat sich gezeigt: Die Evangelische Kirche in Deutschland spricht, anders als die katholische, mehrstimmig. Intern haben wir uns dann darauf verständigt – was ich für sehr wichtig halte –, dass das für eine Volkskirche in einer pluralen Gesellschaft auch gut so ist, wir das aushalten und uns nicht gegeneinander ausspielen lassen. Aus Sicht der EKD ist es also keine Frage des status confessionis, ob man sich für oder gegen Waffenlieferungen ausspricht, sondern eine Frage der vernunftbasierten ethischen Güterabwägung, deren Beantwortung unterschiedlich ausfallen kann, je nachdem, welchen Fokus man wählt und welchem Argument man mehr Gewicht gibt. Wir sprechen uns wechselseitig nicht das Christsein ab und sehen von plumpen Beschimpfungen ab. Stattdessen gehen wir respektvoll miteinander um und zeigen auch der Gesellschaft, dass das geht. Man kann in der Sache hart miteinander streiten, darf sich aber einander den Respekt nicht versagen. Inzwischen erlebe ich das so, dass es in guter Weise gelingt.

Ein zentraler Streitpunkt ist die Frage, wie sich unser christlicher Auftrag der Nächstenliebe, der Nothilfe und Schutz von Opfern miteinschließt, verhält zu Jesu Gebot der Gewaltfreiheit. Ich gehöre zu denen, die sich von Anfang an klar gegen Waffenlieferungen ausgesprochen haben und das bis heute tun. Das werde ich unten ausführlich begründen, wobei auch die Ambivalenz meiner Position deutlich werden wird.

Völlig einig sind wir uns hingegen darin, dass Waffen keinen Frieden schaffen. Denn auch diejenigen in der EKD, die Waffenlieferungen befürworten, wissen, dass man darüber hinaus Bedingungen schaffen muss, die der Ukraine und Russland zukünftig einen gerechten Friedensschluss ermöglichen. Nur wenige sind der Überzeugung, es brauche so lange Waffen, bis die Ukraine wieder befreit ist. Darüber hinaus gibt es auch Friedensgruppen wie „Sicherheit neu denken“, die alternative Modelle der Konfliktbewältigung propagieren. Damit haben wir in der EKD das ganze Spektrum, das es auch in der Gesellschaft gibt.

Die Fixierung auf rein militärische Lösungsmodelle ist eine fatale Verkürzung und wird der Komplexität des Themas nicht gerecht. Sie führt etwa dazu, dass die Fülle des gewaltfreien Widerstands in der Ukraine nicht wahr- und ernstgenommen wird, die zu Beginn noch sichtbarer war: Menschen, die auf die Straße gegangen sind, um sich den Panzern entgegenzustellen, oder die Überklebungen von Verkehrsschildern mit „Den Haag“ oder was es sonst an vielfältigen und fantasiereichen Aktionen gab.

Zudem trägt diese Fixierung keine Antworten zu der großen Frage, wie der Weg zum Frieden aussehen kann, bei; verstärkt sie – fantasielos – doch nur den Krieg. Es braucht andere Initiativen, andere Ideen zu diplomatischen Strategien, um aus dieser Situation herauszukommen, wenngleich uns die Konflikt- und Friedensforschung derzeit keine großen Hoffnungen auf schnelle diplomatische Lösungen macht. Solange sich beide Seiten dank ihrer jeweiligen Unterstützungsysteme militärisch Erfolge ausrechnen, sind sie für andere Lösungen nicht ansprechbar.

Die Gründe, die mich dazu bewegen, für Gewaltfreiheit einzutreten, sind die folgenden:

Der erste ist ein biografischer Grund. Gerade in heftigen Debatten ist es hilfreich, sich gegenseitig zu erklären, aufgrund welcher Erfahrungen und Vorentscheidungen man zu einer bestimmten Position kommt, weil sie dadurch dem Gegenüber verständlicher wird. Ich komme aus der DDR- Friedensbewegung, war Bausoldat und sollte als Jugendlicher schon sagen, dass die SS 20 die guten Raketen sind, die Leben retten, und die Pershings die bösen, die Leben bedrohen. Von diesen schablonenhaften Debatten in scharfen Gegensätzen bin ich geprägt. Angesichts ihrer Absurdität war ich immer der festen Überzeugung, dass Waffen generell von übel sind und ich als Christ ihren Einsatz nicht befürworten kann. Da gibt es für mich nur die eine Ausnahme der Landesverteidigung.

Mir ist natürlich bewusst, dass es das Böse in der Welt gibt und Situationen eintreten, in denen ein Gebiet oder eine Bevölkerungsgruppe vor einem Aggressor geschützt werden muss. Doch bin ich der Meinung, dass diese Situationen eher mithilfe von (welt-)polizeilichen und zivil-diplomatischen Handlungskonzepten angegangen werden müssen als mittels eines hochgerüsteten Abwehrkampfs, der immer die Gefahr der Eskalation in sich birgt (s.u. 5. Grund).

Ein zweiter Grund liegt für mich darin, dass wir wissen – das ist auch aus der Forschung hinlänglich bekannt –, dass Waffenlieferungen in ein Krisengebiet nicht nur den Konflikt dort, sondern auch Konflikte in anderen Regionen der Welt verschärfen, weil Waffen weitergegeben und weiter exportiert werden. Wir können nicht sicherstellen, dass die Waffen, die wir jetzt in großen Mengen liefern, in der Ukraine bleiben und dort nur zur Verteidigung genutzt werden. Die Ukraine hat seit längerem stark mit Korruption zu kämpfen, so dass die berechtigte Sorge besteht, dass sie solche Proliferation von Waffen kaum kontrollieren kann. Das ist ein enormes Problem, das zur weiteren Destabilisierung in der Welt führt.

Der dritte Grund ist ein Gerechtigkeitsargument aus ökumenischer Perspektive. Auf der Weltversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Karlsruhe haben die Kirchen aus dem globalen Süden sehr klar davor gewarnt, aktuell nur auf die Ukraine zu schauen und alles Geld in ihren Verteidigungskrieg gegen Russland fließen zu lassen. Die durch diesen Krieg verringerten Kornmengen und die dadurch verursachten steigenden Lebensmittelpreise würden dazu führen, dass viele Menschen hungern, wenn nicht verhungern. Deswegen müsse der Krieg sofort aufhören. Auch wenn es also vor Ort viele Gründe gibt, ihn weiterzuführen, muss man aus der internationalen Perspektive sagen, dass wir mitverantwortlich dafür sind, dass Menschen verhungern, wenn der Krieg durch unsere Unterstützung weitergeht. Ich erinnere daran, dass wir uns als Weltgemeinschaft der Realisierung von 17 Nachhaltigkeitszielen verschrieben haben, deren erstes lautet: ‚Hunger abschaffen bis 2030‘. Das kostet pro Jahr um die 30 Milliarden US Dollar. Diese bekommen wir nicht zusammen, aber über Nacht sind hundert Milliarden Euro für Aufrüstung möglich. Daran wird deutlich, dass wir falsche Prioritäten setzen, was die menschliche Sicherheit anbelangt.

Der vierte Grund ist für mich ein geschichtliches Argument. Wir erleben, dass mit unserer Geschichte jetzt so argumentiert wird, dass wir als Deutsche im Zweiten Weltkrieg brutales Leid über die Ukraine gebracht haben und deswegen nun verpflichtet seien, sie zu unterstützen. Wir haben aber 1990 den Zwei-plus-vier-Vertrag unterschrieben, dort heißt es: „Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik erklären, daß das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen.“ Die Verpflichtung, keinerlei Waffen einzusetzen, schließt das Verbot des Waffeneinsatzes gegen alle Völker der Sowjetunion ein. Und das betrifft eben auch Belarus, Kasachstan und Russland. Doch nun liefern wir Waffen, durch die russische Soldaten umkommen, und treten damit aus diesem Teil unserer Verantwortung heraus, da wir uns einseitig positionieren. Wiewohl völlig unstrittig ist, dass die russische Seite einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, halte ich diese Positionierung Deutschlands zumindest für fraglich.

Der fünfte Grund liegt für mich darin, dass Waffenlieferungen immer ein Eskalationspotenzial in sich bergen, das nicht abschätzbar ist. Es kann keiner wirklich sagen, wie weit sich unsere militärische Unterstützung weiter steigert und welche Folgen sie hat. Sehr schnell kann ein Schritt den nächsten bedingen. Von Anfang an habe ich davor gewarnt, dass es nicht bei Verteidigungswaffen bleiben wird. Jetzt sind wir schon bei schweren Panzern und reden bereits über Flugzeuge, etc. Und wer heute den Waffenlieferungen zustimmt, wird nur schwer „nein“ sagen können, wenn die Ukraine ins Hintertreffen gerät, die Russen vorrücken und die Frage laut im Raum steht, dass wir als NATO jetzt richtig in den Kampf einsteigen müssen. Das ist das Problem der Eskalation, aus der kaum herauszukommen ist, wenn einmal der Weg des Krieges eingeschlagen ist. Deutschland ist bereits jetzt massiv in den Konflikt verstrickt. Dazu hat die öffentliche Debatte insofern stark beigetragen, als massiv der Eindruck erweckt wurde, Deutschland sei das einzige Land, das nicht bereit sei, Panzer abzugeben. Das ist nichtzutreffend, denn der Blick auf die Verteilung der Leopard 2-Panzer zeigt, dass z.B. auch in der Türkei und in Griechenland jeweils 500 Panzer stehen. Beide Länder könnten also jeweils 200 Panzer sofort abgeben, sind aber dazu nicht bereit. Daran wird erkennbar, dass die Debatte bei uns von einer Wirklichkeitswahrnehmung zeugt, die nicht mit den Realitäten in Europa übereinstimmt, und wir an vielen Stellen der Kriegslogik und einem Informationskrieg aufsitzen. Daher sagt Jesus Christus ja, „kehret um“, das ist immer sein erster Ruf. Gerade erleben wir aber einen Umkehrruf in die andere Richtung: Heute wird gerufen, lasst uns umkehren zur Logik der Waffen und der Abschreckung. Doch wir haben lernen dürfen in der Verarbeitung zweier Weltkriege und unserer Geschichte. Insbesondere in der friedlichen Revolution der DDR haben wir gezeigt, dass wir den Umkehrruf von Jesus gehört und den Weg der Gewaltlosigkeit und des Gebets erfolgreich beschritten haben. Das ist ein großer Schatz und es stellt sich die Frage, wie wir ihn im konkreten Konflikt und in die Debatten in Europa einbringen können.

Ein weiterer Grund liegt für mich in der speziellen politischen Situation in unserem Land, insbesondere in Ostdeutschland. Es gibt eine deutliche Differenz zwischen Ost und West, was die Einschätzung Russlands anbelangt. Das mag überraschen, denn Ostdeutschland war genauso von der russischen Armee besetzt wie Polen, Litauen und Lettland, hat also eine ganz ähnliche Besatzungsgeschichte erlebt wie diese. Und trotzdem haben die Ostdeutschen im Gegensatz zu all diesen Ländern nicht dieselben Vorbehalte und Ängste gegenüber Russland. Wie ist das zu erklären? Ich versuche einige Erklärungsansätze:

  1. Im Gegensatz zu Polen, Lettland, Litauen und anderen osteuropäischen Ländern haben wir den Zweiten Weltkrieg verschuldet. Daher wurde die Besatzung durch die sowjetischen Truppen in Ostdeutschland als folgerichtig empfunden. Die Ostdeutschen hatten zudem das Selbstverständnis, nunmehr der antifaschistische Staat zu sein, während die Faschisten in Westdeutschland sind. Das hat zu der Wahrnehmung geführt, dass es keine dauernde Bestrafung für die eigene Kriegsschuld gab, und zu einer russenfreundlicheren Grundstimmung in der Bevölkerung geführt.
  2. Diejenigen, die mit dem Stalinismus oder auch Kommunismus in Konflikt geraten sind, sind zum größten Teil in die alte Bundesrepublik geflohen oder später auch verkauft worden. Das heißt, die Erinnerung an das Unrecht der sowjetischen Besatzung ist in den westlichen Teil unseres Landes abgewandert und hat dort antirussische und antikommunistische Stereotypen verstärkt.
  3. Schließlich waren in Ostdeutschland noch 1990 viele Tausend sowjetischer Soldaten stationiert, und jeder Ostdeutsche kann eine Geschichte davon erzählen, wie brutal sie gehalten und bei Fluchtversuchen für alle hörbar erschossen wurden. Auch jetzt erleben wir wieder, wie menschenverachtend die russische Armee selbst mit ihren eigenen Soldaten umgeht, scheinbar ohne darüber nachzudenken, was ein Menschenleben Wert ist. Viele hatten damals im Osten Mitleid mit den Soldaten dieser „Knechtsarmee“.

Gerade angesichts dieser historisch begründeten Russenfreundlichkeit ist es für Ostdeutschland wichtig, dass die Kirche, die im Zuge der friedlichen Revolution eine große Rolle für das Thema Frieden spielten, in der Friedensstimme klar bleibt. Wir können es nicht der AfD und antidemokratischen Montagsdemonstrationen überlassen, „Frieden schaffen ohne Waffen!“ zu rufen. Das ist eine desaströse Aneignung, denn in diesen Kontexten hat der Ruf nichts mit gewaltfreier Konfliktbearbeitung oder gerechtem Frieden zu tun. Aber die AfD ist klug darin, sich fremde Parolen, die eine positive Resonanz auslösen, auf die Fahne zu schreiben. Gerade deshalb ist es für uns in Ostdeutschland wichtig, als Kirche klar auf den Weg der Gewaltlosigkeit zu setzen und bei der Friedensbotschaft zu bleiben und sie nicht undemokratischen Kräften zu überlassen.

Trotz all dieser Argumente ist es nicht einfach, sich für eine eindeutige Positionierung zu entscheiden. Schuldlos ist eine Entscheidung nicht zu treffen. Die Abwägungen des Für und Wider bleiben ambivalent. Immerhin hat sich die Diskussion darum, ob das Leitbild des Gerechten Friedens in der aktuellen Situation noch seine Gültigkeit hat, etwas beruhigt. Es zeichnet sich ein Konsens dahingehend ab, dass es als Zielbild bestehen bleiben kann, bestimmte Punkte aber neu justiert werden müssen.

Zentral bleibt die Maxime „wenn du den Frieden willst, bereite den Frieden vor“. Das ist vor allem eine mentale Frage. Wir müssen den vereinfachten antirussischen Feindbildern widerstehen und uns dagegen verwehren, wenn der Tod russischer Soldaten bejubelt wird. Das russische Volk ist nicht unser Feind. Es ist auch falsch, alle persönlichen oder institutionellen Kontakte nach Russland abzubrechen. Studierendenaustausche und Städtepartnerschaften sollten weitergepflegt werden, damit wir im Gespräch bleiben und gegen die imperialistischen und antiwestlichen Narrative argumentieren können, die die russische Propaganda verbreitet. Ansonsten befördern wir die Isolation der russischen Bevölkerung, was wiederum Putins Regime in die Hände spielt.

Unsere vielfältigen Kontakte nach Russland zu halten oder wiederaufzunehmen und zu verstärken, ist auch perspektivisch wichtig. Sollte es zu einem Waffenstillstand oder Friedensschluss kommen, dann muss es möglich sein, mittel- und langfristig wieder aufeinander zuzugehen. Man muss überlegen, wie man Sicherheit in Europa gemeinsam gestaltet. Das Feindbild hingegen weiter zu forcieren, wird nur dazu führen, die Kriegsgefahr weiter zu erhöhen, was wiederum nur weitere extreme Hochrüstung zur Folge hätte. Dass wir in Deutschland massiv abgerüstet und als Volk auch ein Stück verlernt haben, Krieg führen zu wollen, ist eine Errungenschaft, die es zu bewahren gilt. Wir dürfen nicht in Kriegshysterie verfallen und dazu beitragen, dass sich die Situation weiter hochschaukelt und der Krieg auch zu uns kommt – nach dem Satz „Wer Waffen sät, wird Krieg ernten“. Wenn wir hingegen Frieden wollen, müssen wir den Frieden vorbereiten.

Die Friedensdenkschrift von 2007 formuliert vier Dimensionen des Leitbilds des gerechten Friedens, anhand derer ich nochmals aufzeigen will, wie ambivalent die Entscheidung für oder gegen Waffenlieferungen zu sehen ist.

  1. Die erste Dimension lautet Schutz vor physischer Gewalt und Vermeidung von Gewalt, auch im Sinne der Verteidigung der Menschenwürde. Einerseits entsprechen Waffenlieferungen dieser Dimension, wenn sie zum Schutz der Menschenwürde des ukrainischen Volks eingesetzt werden sollen. Andererseits laufen sie ihr klar zuwider, denn sie vermeiden nicht die Gewaltanwendung, sondern verstärken sie noch.
  2. Die zweite Dimension besteht in der Förderung von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und der Geltung des Rechts. Diese Dimension spricht in der aktuellen Situation des Ukrainekriegs klar für Waffenlieferungen. Es liegt ein Rechtsbruch von vielen völkerrechtlichen Verträgen vor, der nicht hingenommen werden kann. Auch die große Freiheitsbedrohung für die Ukraine und ihre Entwicklung als demokratisches Land und die Gefahr, dass dies weitere Okkupationen Russlands und weitere Rechtsbrüche nach sich zieht, sprechen dafür, Waffen zu liefern.
  3. Die dritte Dimension umfasst Abbau von Not, Bewahrung der natürlichen Rechtsordnung und Ressourcengerechtigkeit – Option für die Armen. Sie spricht ganz klar dafür, keine Waffen zu liefern, weil mit jeder Waffe, die den Krieg verlängert, mehr Menschen im Globalen Süden leiden und verhungern werden. Zudem werden durch die Aufrüstung enorme Geldsummen gebunden, die für die dringliche Förderung der Ressourcengerechtigkeit und die Bekämpfung gemeinsamer globaler Krisen, wie die Klimakrise, vonnöten sind.
  4. Die vierte Dimension ist die Anerkennung kultureller Vielfalt. Sie macht etwas deutlich, was wir auch in unserer Debatte über die Waffen benötigen: die Anerkennung unterschiedlicher soziokultureller Prägungen, differenter Perspektiven und Meinungen. Denn da, wo deren Vielfalt nicht mehr geachtet wird, sind wir schon im Kriegsmodus. Und nur dort, wo wir mit vielen Stimmen die vielen Fragen und Abwägungen miteinander diskutieren können, ist das, was Frieden bedeutet, auch in der Art, wie wir miteinander diskutieren, erfahr- und lebbar.

Wie geht es also mit unserer Diskussion weiter? Ich habe auf der Herbstsynode der EKD vorgetragen und vorgestellt, dass ich eine Friedenswerkstatt einberufen habe, in der alle maßgeblichen Player der evangelischen Friedensarbeit und Friedensethik im Raum der EKD versammelt sind. Diese Friedenswerkstatt verfolgt das Projekt, die friedensethische Diskussion im Raum der EKD vom indirekten Schlagabtausch über die Medien wegzuführen hin zu einem direkten, konstruktiven Verständigungsprozess. Dazu strengt sie ab Herbst ein umfassendes Konsultationsverfahren an, auf dessen Grundlage im kommenden Jahr ein neuer friedensethischer Orientierungstext entstehen soll. Verfasst wird dieser von einer Expertinnen- und Expertengruppe des Kammernetzwerks, die der Rat der EKD berufen hat und die eine Redaktionsgruppe bilden wird. Wir als Friedenswerkstatt benennen Menschen, die von dieser Gruppe anzuhören sind. Anders als bisher wird also nicht eine Kammer untereinander diskutieren und einen Grundlagentext formulieren, der dann normativen Charakter hat – so ist etwa die Denkschrift von 2007 entstanden. Vielmehr wird nun die ganze Bandbreite der friedensethischen und friedenspraktischen Positionen einbezogen und in Austausch gebracht – von „Sicherheit neu denken“ und Friedensdiensten über die Militärseelsorge bis hin zur Expertise zur Sicherheitspolitik. In öffentlichen Tagungen an den Akademien zu Berlin, Bad Boll und Loccum, zu denen ich schon jetzt alle Interessierte herzlich einlade, werden die benannten Menschen ihre Gedanken zu acht Themenfeldern jeweils im Blick auf eine Weiterentwicklung der Denkschrift von 2007 vortragen und diskutieren. Dabei werden natürlich auch die angesprochenen Fragen und Anfragen an eine evangelische Friedensethik, die sich unter dem Eindruck des Ukrainekrieges neu stellen, zur Sprache kommen. Das Redaktionsteam des Kammernetzwerks wird unter dem Eindruck dieser Diskussionen einen Entwurf für den neuen Grundlagentext erstellen. Die aktuelle Diskussion zeigt, dass solche Schriften immer noch und gerade heute als Orientierungshilfe gebraucht und genutzt werden. Inwiefern der neue Text als eine solche dienen kann, wird anschließend noch in einem Bürgerdialog im Blick auf konkrete friedenspolitische Fragen erprobt werden, bevor der Text dann offiziell vom Rat der EKD verabschiedet werden soll. Mindestens so wichtig wie das Ergebnis ist aber der umfängliche Konsultations- und Dialogprozess als ein konstruktiver Tiefenprozess selbst, der auch die ökumenische Dimension mit einbezieht. Hier ist die Hoffnung, dass dadurch ein friedenspraktisches Netzwerk entsteht, das nachhaltig und dauerhaft Diskurs und Handeln prägen kann.

Mein letzter Punkt: Auf der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Karlsruhe 2022 ist deutlich geworden, dass die ökumenische Weltgemeinschaft der Kirchen eine sehr klare Haltung in der Frage des Ukrainekrieges vertritt. Die verabschiedete Resolution hat dezidiert zum sofortigen Waffenstillstand und zur umgehenden Beendigung des Krieges aufgerufen. Das hat Widerspruch sowohl bei der ukrainischen als auch russischen Delegation ausgelöst, die beide anwesend waren. Während die ukrainischen Delegierten mehr militärische Unterstützung eingefordert haben, haben die russischen Delegierten kritisiert, dass diese Fragen rein politischer Natur seien und nichts mit dem Glauben zu tun hätten. Gleichwohl haben beide Delegationen die Resolution mitgetragen, die eindringlich dazu aufruft, alle diplomatischen Wege zu versuchen und zu nutzen, die den Krieg beenden können, und prinzipiell mehr die zivile, denn die militärische Konfliktbearbeitung voranzubringen. Darüber hinaus fordert die Resolution alle Kirchen dazu auf, sich in ihren jeweiligen Ländern für deren Beitritt zum Atomwaffenverbotsvertrag zu engagieren.

Von diesen Einsichten weicht die aktuelle friedensethische Debatte in Deutschland vor allem in zwei Punkten ab: Der erste betrifft die Frage der nuklearen Abschreckung. In der EKD gab es bisher einen, man könnte sagen, atompazifistischen Konsens, demzufolge die Drohung mit und der Einsatz von Atomwaffen klar abgelehnt wurde. Im Rahmen des Konziliaren Prozesses ist diese Haltung noch in dem Sinne verstärkt worden, auch die Herstellung und den Besitz von Atomwaffen als politische Optionen für Christinnen und Christen zu verwerfen. Nun aber argumentieren einige auch in den Kirchen wieder für die Sinnhaftigkeit eines atomaren Schutzschildes mit dem Hinweis darauf, dass die Ukraine nicht überfallen worden wäre, wenn sie Atomwaffen gehabt hätte. Der atompazifistische Konsens wird in Frage gestellt. Doch bin ich der festen Überzeugung, dass Massenvernichtungsmittel in keiner Weise von den Kirchen zu rechtfertigen sind, für keine militärische Strategie. Hier gilt es, ganz klar zu bleiben.

Der zweite Punkt betrifft den vom ÖRK formulierten Primat der Gewaltfreiheit und damit das bereits angesprochene aktuell empfundene Dilemma zwischen Nächstenliebe und Schutzverantwortung einerseits und dem Gebot des Gewaltverzichts und der Feindesliebe in der Nachfolge Jesus Christi andererseits. Hier zeigt sich in der Debatte eine bemerkenswerte Verschiebung und gefährliche Verkürzung. Während innerhalb des Rats der EKD oder auch unter den leitenden Geistlichen von einem ethischen Dilemma die Rede ist, aus dem nicht ohne Schuld herauszukommen sei, behaupten einige Friedensethiker, dass dies gar kein Dilemma sei, weil es eine Verpflichtung zur Nothilfe gebe, aus der sie dann unmittelbar eine Verpflichtung zur Waffenhilfe folgern. Das halte ich für sehr bedenklich. Es gibt keinerlei Rechtsgrundlage, die Deutschland per se zu Waffenlieferungen verpflichten würde. Die Ukraine ist kein Teil der NATO und wir haben das Budapester Memorandum nicht unterschrieben. Selbst im Falle einer UN-Resolution gegen einen Aggressor bestünde für die Mitgliedsstaaten keine völkerrechtliche Verpflichtung zu militärischer Hilfe für das Opfer, sondern die Umsetzung völkerrechtlich gebotener Nothilfe kann vielerlei Formen annehmen. Gleiches gilt für das christliche Gebot der Nächstenliebe, denn es gibt auch keinen ethischen Imperativ, die gebotene Nothilfe als Waffenhilfe zu leisten. Das hieße ja, in jedem vergleichbaren Angriffskrieg den Opfern Waffen liefern zu müssen. Den Opfern des Ukrainekriegs haben wir durchaus alle erdenkliche Hilfe zu leisten – medizinische, finanzielle und strukturelle, das ist keine Frage. Doch die Entscheidung pro oder contra Waffenlieferungen ist letztlich eine politische, die auf einer differenzierten ethischen Güterabwägung beruhen sollte. Und in dieser Abwägung überwiegen aus meiner Sicht die oben genannten Gefahren und Negativfolgen für die Welt, uns und die Ukraine gegenüber den erhofften positiven Wirkungen.

Abschließend ist nochmals zu betonen, dass die friedensethische Debatte an sehr vielen Orten stattfindet, und sehr intensiv geführt wird. Viele Menschen sind an ihr interessiert. Ich erlebe in der EKD-Friedenswerkstatt und bei den Veranstaltungen, die ich besuche, harte Auseinandersetzungen in der Sache, aber einen respektvollen Umgang. Dass wir auch über den Krieg im Geiste des Friedens diskutieren, gilt es zu bewahren und weiterzuführen. Dabei werde ich nicht müde, das, was wir in der deutschen Geschichte, mithin der friedlichen Revolution, gelernt haben, in die gesellschaftlichen Debatten einzubringen: Es lohnt sich, klarer auf das Evangelium zu schauen und den Weg der Gewaltlosigkeit, zu dem Christus ruft, zu gehen.

Vortrag des Friedensbeauftragten auf der Tagung "Vom Krieg zum Frieden" der Martin-Niemöller-Stiftung und des Dietrich Bonhoeffer Vereins e.V. am 24.03.2023 im Augustinerkloster zu Erfurt