Rede zum Reformationsfest 2024 in der Kirche St. Michael in Fürth (2024)
Von Landesbischof i. R. Dr. Jochen Cornelius-Bundschuh, AGDF-Vorsitzender
„Nun aber ist die Gerechtigkeit Gottes offenbart.“ So beginnt der Predigttext zum heutigen Reformationsfest aus dem Römerbrief im 3. Kapitel. Was ist mit „Gerechtigkeit Gottes“ gemeint? Der Reformation war wichtig: die Gerechtigkeit Gottes ist zuerst und vor allem eine Bewegung, eine Bewegung, durch die Gott sich uns zuwendet und die Welt erneuert. Nicht, was wir tun, sondern was Gott für uns tut, ist der Ausgangspukt für den Glauben. Davon erzählen die biblischen Geschichten; das bezeugen die Propheten; das zeigt sich uns in der Begegnung mit Jesus Christus: „Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht!“ (Lk 21,28)
Was kommt da auf uns zu? Ein Licht in der Finsternis; Hoffnung auf eine gerechtere Welt, auf eine Welt, in der Schwerter zu Pflugscharen verwandelt werden. Im Glauben vertrauen wir darauf, dass keine Macht „Gottes Liebe von der Welt fernhalten (kann), … wie groß auch ihre Gewalt sein mag.“
Das klingt trotzig angesichts der gegenwärtigen Schrecken. Spätestens seit der Jahrtausendwende gilt militärische Gewalt wieder als legitimes Mittel der Politik. Was zählt ist Macht. Sie achtet internationales Recht gering; sie sucht nicht den politischen Ausgleich; sie setzt ihre Interessen im Inneren wie nach außen mit Gewalt durch.
Der russische Überfall auf die Ukraine hat diese Entwicklung noch einmal verschärft und auch die friedensethische Debatte in der evangelischen Kirche neu angefacht. Wie werden wir in dieser Lage friedensfähiger?
Gottes Friedensbewegung und unser Friedenshandeln
Ich beginne noch einmal vorne, theologisch, also mit dem, was Gott für uns tut. Ein Kind wird geboren und die Engel singen: „Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden!“ Die Bewegung Gottes in unsere Welt ist eine Friedensbewegung: „Ich breite bei ihr Frieden aus wie einen Strom.“ (Jesaja 66, 12) Sie fließt wie ein breiter Fluss in unsere Wirklichkeit. Sie will das Land lebenswert und das Leben schön machen; sie will uns mitreißen und macht uns friedensfähiger.
Aber klar ist reformatorisch auch: Der Ursprung, die Fülle und die Kraft dieser Friedensbewegung liegen allen unseren Bemühungen um Frieden voraus. Gottes Frieden verheißt ein Leben in Würde, den Schutz vor Gewalt, die Bewahrung der Lebensgrundlagen der Mitwelt und zukünftiger Generationen, den Abbau von Ungerechtigkeit und Not, die Stärkung von Recht und Freiheit. In Gottes Friedensbewegung kommen alle Dimensionen des Friedens zusammen.
Unser Friedenshandeln nimmt Gottes Bewegung auf: Wir versuchen, Gewalt zu minimieren und Gerechtigkeit zu stärken. Aber schnell merken wir, wie die verschiedenen Ziele in Konflikt geraten. Wer um der Opfer, der Ökologie und der globalen sozialen Folgen willen einen schnellen Waffenstillstand im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine fordert, muss sich fragen lassen, wie wichtig ihm die Rechte und die Freiheit der Menschen in der Ukraine sind. Bestärkt ein solcher Schritt nicht die Autokratien, weil er signalisiert: Macht geht eben doch vor Recht? Umgekehrt: Wer militärisch handelt oder Waffen liefert, beteiligt sich an einer Dynamik, die sich schwer einhegen lässt. ‚Feindschaft‘ rechtfertigt (fast) jede militärische Option.
Wir erleben, dass es keinen Krieg ohne Flucht und Vertreibung gibt, ohne Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ohne Menschenhandel, ohne sexuelle Übergriffe und Gewalt gegen Frauen und Menschen mit anderer geschlechtlicher Orientierung. „Ist der Krieg erst einmal ausgebrochen, dann wird Gewalt in einem Ausmaß angewandt, das die Grundlage des Rechts zu zerstören droht“, hat der Ökumenische Rat der Kirchen schon 1948 in Amsterdam erklärt.
Gottes Friedensbewegung erneuert die Welt dagegen nicht durch Gewalt, sondern indem Gott den Menschen treu bleibt und für uns Mensch wird, sich in Christus selbst verwundbar macht und die Eskalation von Macht und Gewalt am Kreuz durchbricht. Seit Ostern haben Tod, Macht und Gewalt nicht das letzte Wort; die Friedensbewegung Gottes setzt ihnen Grenzen. Auf den Osterbildern werden die Soldaten, die Jesu Grab bewachen, nicht getötet, aber entmächtigt: sie schlafen ein; sie purzeln durcheinander.
Am Anfang der Friedensfähigkeit steht die Unterscheidung: „Ich bin Mensch, nicht Gott!“
Wie werden wir friedensfähiger? Theologisch beginnt unser Friedenshandeln mit der Erkenntnis: „Ich bin Mensch und nicht Gott!“ Diese Unterscheidung hat eine kritische, antifundamentalistische, und eine positive, uns in unserer Menschlichkeit verbindende Seite:
Einerseits wehrt sie jeder Verabsolutierung von eigenen Perspektiven. Sie setzt jedem Menschen und jeder Macht Grenzen und stellt unsere Zuschreibungen von Gut und Böse, Freund und Feind in Frage. Die deutschen Kirchen haben das nach den Kriegspredigten des 1. Weltkrieges mühsam lernen müssen: Wir haben die Wahrheit nicht in unseren Händen; sie liegt bei Gott, in Christus, der sie in unsere Welt bringt. In der Ökumene ringen wir mit der russisch-orthodoxen Kirche um diese Unterscheidung, die staatliche Machtinteressen mit Gottes Willen identifiziert.
Für demokratische Kulturen ist diese Unterscheidung (über-) lebenswichtig. Sie warnt vor den großen Worten, den Eindeutigkeiten und Moralisierungen, die Identität über Abgrenzung, Abwertung und Polarisierung sichern wollen; sie drängt auf wechselseitige Anerkennung, auf das Gespräch, die Stärkung des Rechtes und das Aushandeln von Kompromissen, auch mit Feinden.
Aber – und das ist die andere Seite – diese klare Unterscheidung zwischen Gott und Mensch führt uns zugleich in unserer Begrenztheit zusammen. Wir sind gemeinsam mit allen Lebewesen Gottes Geschöpfe, als Menschen gemeinsam Ebenbilder Gottes mit einer unantastbaren Würde. Christenmenschen versuchen, auch im Feind den Mitmenschen zu erkennen und das Böse und die Gewalt nicht nur bei den anderen zu sehen. Wir entdecken, wie verstrickt wir in Formen struktureller Gewalt sind, wie eng Humanität und Barbarei aneinanderstoßen, wie selten die politische Lage schwarz oder weiß ist.
Das führt nicht in ein: ‚Wir sind doch alle kleine Sünderlein‘, irgendwie auch böse und schuldig. Das relativiert keine Kriegsverbrechen, nivelliert nicht den Angriffskrieg und die spezifischen Erfahrungen von Unfreiheit, Ungerechtigkeit und Zerstörung der Grundlagen des Lebens.
Wer friedensfähig werden will, sieht die Verbundenheit mit den anderen Menschen, selbst mit den Feinden, und benennt zugleich die Konfliktlagen möglichst realistisch: die Machtverhältnisse, die Leiden der Opfer und das Unrecht der Täter. Wer in Konflikten handlungsfähig werden will, muss die eigenen und die fremden Machtinteressen, muss Bosheit und Gewaltverhältnisse nüchtern wahrnehmen und bereit sein, sie bewusst zu gestalten.
Geistliche Praxis schafft Raum für Frieden und Versöhnung
Das Vertrauen auf die Kraft der Friedensbewegung Gottes hat angesichts der Brutalität und der vermeintlichen Ausweglosigkeit der aktuellen Konflikte und der Verzweiflung der Opfer etwas Trotziges. Was stärkt den Glauben und die Hoffnung, woher kommen der Mut und die Kraft zum Dienst für den Frieden und für Versöhnung?
Hier liegt m.E. die erste, vielleicht wichtigste Aufgabe der Kirche: eine vielgestaltige geistliche Praxis zu fördern, die das Vertrauen in die Kraft und die Orientierung an der Ausrichtung der Friedensbewegung Gottes stärkt.
Wenn es am Ende der Predigt heißt: „Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Bruder und Herrn“ verorten wir, was wir gesagt und gehört haben, in der Friedensbewegung Gottes. Wenn wir uns beim Abendmahl „Der Friede Christi sei mit dir!“ zusprechen, stellen wir einander in Gottes Frieden und tragen ihn weiter.
Geistliche Praxis ermöglicht innezuhalten, damit die Friedensbewegung Gottes zur Sprache und zur Wirkung kommen kann. Die Dynamik der Gewalt wird unterbrochen, der Handlungsdruck begrenzt, die eigenen Perspektiven gebrochen. Ein Zeit-Raum öffnet sich, in dem Gottes Frieden in die Welt strömen kann. Wir hören, wie die Bibel von Gottes Frieden erzählt und was sie für die Zukunft verheißt; wir klagen und danken, wir halten Fürbitte, wir teilen Brot und Wein. Diese gemeinsame Praxis macht uns mutig und frei, uns nicht von der Angst oder dem Kampf um die Macht treiben zu lassen, sondern persönliche und politische Spielräume zu entdecken und zu gestalten, in denen Frieden wachsen kann.
Solche Unterbrechungen strahlen in die Öffentlichkeit aus: beim ‚normalen‘ Gemeindegottesdienst ebenso wie bei Friedensgebeten und Mahnwachen, in den Friedensdekaden, in Diskussionen in Gemeinden und Synoden, in Freiwilligen- und Friedensdiensten, in den Trainings zur zivilen Konfliktbearbeitung und der Militärseelsorge. Wer hätte 1945 gedacht, dass eine Versöhnung mit Israel, Polen und Frankreich möglich ist. Beharrlich haben Menschen an dieser Hoffnung festgehalten, Begegnungen organisiert und Friedensarbeit geleistet. Ohne die Arbeit von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) und viele andere Initiativen wäre die Versöhnung kaum vorangekommen.
Die geistliche Perspektive schafft eine Distanz zur Eigenlogik der (militärischen) Gewalt und zu vermeintlich notwendigen Eskalationen auch auf ‚unserer‘ Seite. Sie macht Mut, Differenzen untereinander zuzulassen und Zögerlichkeit und Nachdenklichkeit nicht als Schwäche zu verstehen. Sie gibt Kraft, Ambivalenzen auszuhalten und sich den Grenzen der Durchsetzbarkeit des Rechts zu stellen; sie deckt Tarnungen der Bosheit auf allen Seiten auf und fragt nach der eigenen Verstrickung in Unrecht und Ungerechtigkeit.
Die geistliche Praxis erfordert eine doppelte Alphabetisierung.
Die Alphabetisierung des Glaubens ringt um das Verständnis der Friedensbewegung Gottes. Wie ein Alphabet entfalten z.B. die Verse des Psalms 34 Schritte in Richtung Frieden. Was bedeutet es, wenn Christus diejenigen seligpreist, die Frieden stiften? Damals vielleicht: ‚Lasst euch angesichts der Übermacht der pax romana nicht zu gewalttätigem Widerstand verführen!‘ Heute vielleicht: ‚Entdeckt die Zwischenräume, in denen es gelingt, Gewalt zu minimieren und schon jetzt neue Wege Richtung gerechten Frieden zu gehen!‘
Das andere Alphabetisierungsprogramm beschäftigt sich mit den sozialen, wirtschaftlichen, politischen und ethischen Bedingungen von Krieg und Frieden und fragt nach Alternativen ziviler Konfliktbearbeitung und sozialer Verteidigung. Schon der Zwischenbericht der Enquete-Kommission zum Afghanistan-Krieg hat deutlich gemacht hat: Hat der Krieg begonnen, reduziert sich der politische Diskurs schnell auf militärische Fragen, auch wenn alle Untersuchungen zeigen, dass nur für alle Seiten zumutbare, zivile Lösungen zu einem nachhaltigen Frieden führen. Dann scheinen wir „zum Leben mit dem Schwert verdammt.“ (David Grossmann)
Wer andere Wege sucht, muss dagegenhalten: Wir brauchen die Friedens- und Konfliktforschung. Wir müssen Friedensfachdienste fördern und Maßnahmen der Gewaltprävention, der sozialen Verteidigung und der zivilen Konfliktbearbeitung erarbeiten und einüben. Wir lassen uns nicht von militärstrategischen Überlegungen gefangen nehmen, sondern fragen schon im Krieg, wie eine gute Ordnung nach dem Krieg aussehen kann.
Manchmal wird es als Schwäche gesehen, dass es in den evangelischen Kirchen eine intensive Auseinandersetzung über Fragen der Friedenspolitik gibt. Ich sehe diese Diskussionen als wichtigen Beitrag zur sicherheitspolitischen Debatte in einer demokratischen Kultur: Es ist hilfreich, sich der Situation aus unterschiedlichen, auch gegensätzlichen Perspektiven nüchtern und realistisch zu stellen. Wer nicht alles von sich erwartet, sondern auf Gottes Frieden vertraut, ist auch in Konflikten gesprächsfähig, die kaum lösbar erscheinen. Christenmenschen halten einen konstruktiven Kontakt zu denen, die anderer Meinung sind; sie setzen sich ernsthaft mit ihnen auseinander. Handlungsfähig werden wir in Konflikten, wenn wir gemeinsam in die Grauzonen und Abwägungen gehen. So wie Gott nicht ‚irgendwo da oben für sich‘ bleibt, sondern in die Leiblichkeit, in die Welt hineingeht und die Auseinandersetzung sucht, so darf die Friedensbewegung, die sich von Gottes Frieden bewegen lässt, nicht ‚unter sich‘ bleiben, sondern sucht die öffentliche Auseinandersetzung.
Friedensfähiger werden wir an der Seite der Opfer.
Christus drängt uns an die Seite der Opfer von Gewalt und Unterdrückung. Ihn ‚jammerte‘ das Volk und die Menschen in ihrer Not. Mit dieser Haltung bewegt Christus sich in der Welt und macht die Leidenden und Ohnmächtigen handlungsfähig in Konflikten. Diese Haltung legt er uns ans Herz.
Das fordert einen Blickwechsel: weg von dem Streben nach Macht und Sieg hin zu einer Konzentration auf die, die unter der Gewalt leiden: Die Menschen, in deren Leib und Seele sich die Kriege hineinfressen; deren Lebenswege durch Traumata blockiert sind; Soldaten, die nicht mehr wissen, wie sie ins zivile Leben zurückkehren können: „Du kannst das nicht verstehen, wenn du es nicht gerochen hast, das Geräusch nicht im Ohr hast, das Gefühl, was es bedeutet, jemanden zu töten.“
Wir hören in den Nachrichten Zahlen; Christus schärft unseren Blick für die Menschen und ihre Geschichten. ‚Gedenkt der Opfer und lasst sie zu Wort kommen, dass sie wieder handlungsfähig werden!‘ Da ist unsere Seelsorge gefragt, die Begleitung Traumatisierter, die soziale Unterstützung vor Ort, so wie sie die Diakonie und viele Friedensinitiativen leisten.
In der Teilhabe an der Bewegung Gottes weitet sich unser Horizont: Wir sehen, wie Menschen im globalen Süden ihre Nahrungsmittel und ihre Energie nicht mehr bezahlen können. Wir erleben, wie bei Sozialleistungen, Entwicklungshilfe oder bei Freiwilligendiensten gespart wird, um die Mittel für das Militär zu erhöhen, also gerade bei all dem, was einen gerechten Frieden stärkt. Wir sehen, wie im Schatten des Krieges gegen die Ukraine in Syrien oder im Sudan noch leichter und brutaler Krieg geführt wird, weil niemand mehr hinschaut. Wie autoritäre Herrscher die Menschenrechte in ihrem Machtbereich offen mit Füßen treten, weil sie von den Kriegsparteien (politisch und ökonomisch) umworben werden. Wir sehen unwiederbringlich zerstörte Kulturgüter und verendete Tiere. Krieg hat „katastrophale Folgen“ für die „Gemeinschaft des Lebendigen“ und die Zukunft des Ökosystems.
‚Friedensfähiger werden‘ heißt, persönlich Verantwortung zu übernehmen.
Wie werden wir friedensfähiger? Der Protestantismus fragt im Blick auf dieses „Wir“ zurück! Du bist gefragt! Wer Frieden will, muss vor Ort und persönlich heraus aus der Logik, die nur Freund oder Feind kennt, Hass sät und den Feinden ihre Menschlichkeit abspricht. Glaube macht Menschen mutig und frei: Da ist der Meister in seinem Umgang mit Auszubildenden gefragt, die Geduld der Verwaltungsangestellten, die der syrischen Flüchtlingsfamilie einen Antrag erklärt. Da sind Menschen gefragt, die Menschen, die aus Kriegsgebieten fliehen, einladen.
Dazu braucht es eine (kirchliche) Bildungsarbeit, die Menschen darin bestärkt, Konflikte offen anzusprechen; in der sie erleben, dass ihre persönliche Verantwortung gefragt ist: „Dass Du mit Gottes Hilfe ein Mensch wirst, der auch gegen den Strom schwimmen kann“, schrieb Eleonore von Trott zur Konfirmation an ihren 14jährigen Sohn Adam. 21 Jahre später wurde er wegen seiner Beteiligung am Attentat gegen Hitler hingerichtet.
Diese individuelle Verantwortung ist zentral, denn Krieg wird mit Waffen geführt, aber seine Begründung und Kraft erhält der Krieg durch eine „Politik der Feindschaft“ (Achille Mbembe), die sich in Köpfen und Herzen festsetzt. Sie sortiert und grenzt aus: gut gegen böse, Freund gegen Feind. Christi Liebe widerspricht dieser Logik und drängt uns ins Dazwischen: Raus aus den Eindeutigkeiten, die dazu verführen, der Logik der Gewalt zu folgen; rein in die Ambivalenzen und Konflikte, die wir im Vertrauen auf das versöhnende Handeln Christi „zivil“, d.h. gewaltfrei und partizipativ, Schritt für Schritt, auf der Suche nach einer für alle annehmbaren Lösung angehen.
Dies ist umso wichtiger, als die moderne Kriegsführung, wie wir sie zurzeit in der Ukraine und im Nahen Osten erleben, auf ein „moralisches Outsourcing“ zielt, das die militärisch Handelnden von den Folgen ihres Handelns trennt. Private Sicherheitsfirmen und Söldnertruppen verdienen mit Krieg Geld; die dynamische Entwicklung in der Rüstung führt zu Technologien, die so schnell eigenständig entscheiden, dass eine menschliche Kontrolle kaum noch möglich ist; pharmazeutische Produkte ermöglichen es Soldatinnen und Soldaten über ihre physischen und psychischen Grenzen zu gehen; hybride Kriegsführung reduziert Gewalt auf den Umgang mit Daten und drängt die schrecklichen Folgen ihres Einsatzes aus dem Blickfeld.
Christi Friede bewegt einzelne, Verantwortung zu übernehmen und der Kraft der Versöhnung zu trauen. Das gilt für Soldatinnen und Soldaten, wie es Wolf Graf von Baudissin mit seinem Konzept der Inneren Führung in der Bundeswehr verankert hat: Wer militärisch handelt, tut dies als Teil unserer demokratischen Gesellschaft und in persönlicher, staatsbürgerlicher Verantwortung. Auch wer aus Gewissensgründen den Wehrdienst verweigert, übernimmt Verantwortung für unser Gemeinwesen und seine Sicherheit, macht sich gemeinsam mit anderen auf die Suche nach Wegen, wie Konflikte zivil bearbeitet werden können.
Im kommenden Jahr werden alle achtzehnjährigen jungen Leute in Deutschland angeschrieben werden, ob sie bereit sind, einen Basiswehrdienst zu leisten. Als Kirche sind wir gefragt, sie dabei zu begleiten und unsere Räume zu öffnen, damit sie gemeinsam darüber nachdenken und sich beraten können. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung gehört zu den Grundrechten unserer Verfassung und ist seit 1987 von der UN als Menschenrecht anerkannt. Im Blick auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine heißt das: In Deutschland müssen Männer aus Russland, die sich dem Kriegsdienst verweigern, ebenso wie ukrainische Männer, die nach Deutschland geflohen sind, um keinen Kriegsdienst zu leisten, Zuflucht finden.
Der Ruf in die persönliche Verantwortung gilt schließlich auch für die, die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben oder dafür die rechtliche oder politische Verantwortung tragen. Es ist wichtig, dass die Staatengemeinschaft solche Verbrechen strafrechtlich verfolgt, auch wenn gerade auch einige der ‚großen‘ Länder sich bisher noch weigern, sich den Statuten des Internationalen Gerichtshofs bzw. Strafgerichtshofes zu unterwerfen.
Friedensfähiger werden: Politische Perspektiven
Eigentlich sind sich alle einig: Die großen globalen Herausforderungen wie der Klimawandel, die globale soziale Gerechtigkeit und die Migration lassen sich nicht militärisch lösen; der wichtigste Beitrag für mehr globale Sicherheit wäre eine gerechtere, ressourcenschonendere und die Menschenrechte achtende Weltordnung. Die politische Entwicklung geht jedoch in eine andere Richtung: internationales Recht und internationale Institutionen verlieren an Gewicht, Abkommen zur Rüstungsbegrenzung werden aufgegeben, militärische Gewalt gilt als ‚normales‘ Mittel der Politik, dem Machtstreben nach außen korrespondiert ein zunehmender Autoritarismus nach innen.
Wer die zivile Konfliktbearbeitung stärken will, muss diesen Trend umkehren. Wir brauchen starke internationale und regionale Organisationen wie die UNO oder die OSZE, die in inner- und zwischenstaatlichen Konflikten auf der Basis des internationalen Rechts vermitteln. Sie müssen in die Lage versetzt werden, die Macht einzelner Akteure effektiv zu begrenzen, als ‚ultima ratio‘ auch mit klarem internationalem Mandat und militärischen Mitteln. Wir brauchen Initiativen zur Rüstungsbegrenzung und politische (diplomatische) Impulse, die Zwischenräume für Verhandlungen aufspüren. Frieden ist eine Frucht der Gerechtigkeit; deshalb wird eine solche Stärkung des internationalen Rechtes nur gelingen, wenn der sogenannte globale Süden politisch angemessen beteiligt ist und es zu einer ökonomisch gerechteren globalen Entwicklung kommt.
Diese Entwicklung muss von starke Zivilgesellschaften getragen werden. Dabei geht es nicht um eine Absage an institutionelle Formen politischer Repräsentation, sondern um eine breite Beteiligung und Verankerung des Friedenshandelns in der Bevölkerung. In diesem Sinne wäre es wahrscheinlich klug gewesen, statt ab Februar 2022 zivilgesellschaftliche Kontakte wie Städtepartnerschaften um der moralischen Eindeutigkeit willen auszusetzen, den Kontakt zu halten; den Partnerinnen und Partnern in Russland deutlich zu sagen, dass dieser Krieg Unrecht und völkerrechtswidrig ist, aber eben doch weiter miteinander im Kontakt zu bleiben und zu reden.
Manche werden einwenden: Ist es mit dem internationalen Recht nicht so wie mit dem Wort Gottes, von dem Martin Luther in seiner Schrift „Vom unfreien Willen“ schreibt: Dem Wort Gottes geht es wie der Nachtigall, zu der der Wolf sagt: „Du bist eine Stimme; sonst nichts!“ Und doch hat dieses Wort die Welt verändert. Die Nachtigall erhebt ihre Stimme und singt vom Frieden Gottes. Sie gibt uns Mut, Kraft und einen langen Atem, um einzustimmen. Gegen die Angst, die Feindschaft und die Mutlosigkeit vertrauen wir auf Gottes Verheißung: „Ich breite bei ihr Frieden aus wie einen Strom!“