Friedensvotum des Reformierten Bundes (2023)

1. Einleitung

Der furchtbare Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine dauert nun schon länger als ein Jahr, und noch immer ist kein Frieden in Sicht. Das Sterben und Töten geht weiter. Es wird immer offensichtlicher, dass die Rede von einem „Sieg“ und „Kriegsgewinn“ zutiefst fragwürdig ist. Die Zahl der gefallenen Soldaten sowie der Opfer in der Zivilbevölkerung steigt unaufhörlich. Fast täglich erreichen uns Nachrichten von Kriegsverbrechen und Gräueltaten, insbesondere an Kriegsgefangenen, Frauen und Kindern. Von außen werden immer mehr, immer schwerere Waffen in immer kürzeren Abständen geliefert. Längst handelt es sich nicht mehr nur um einen territorial begrenzten Konflikt, sondern immer mehr Beteiligte und Unbeteiligte werden in die Kriegsdynamik hineingezogen. Zudem befeuert der Krieg die ohnehin dramatische internationale Ernährungs- und Klimakrise. Das erschüttert uns und lässt uns nicht schweigen.

Angesichts der schrecklichen Verluste an Menschenleben und der unabsehbaren Eskalationsdynamiken muss dieser Krieg sofort beendet werden. Unser Glauben an den „Gott des Friedens“ (1Kor 14,33), der ein Liebhaber des Lebens ist (Weish 11,26), gebietet es uns, dies auf das Nachdrücklichste auszusprechen.

Auch wir wissen aktuell nicht, wie eine konkrete Konfliktlösung aussehen kann, die dem Sicherheitsbedürfnis aller Beteiligten gerecht wird. Weder mit einem einseitigen „Keine Waffenlieferungen mehr!“ noch einem „Nur nicht ‚weich‘ werden gegenüber Putin!“ wird ein plausibler Weg zum Frieden angezeigt. Die sich zuspitzende Eskalationsdynamik wird uns dem Friedensziel keinen Millimeter näherbringen. Im Gegenteil! Vor solch einem Irrglauben sorgenvoll zu warnen, sehen wir uns in der Pflicht.

Das vorliegende Votum versucht einem Auftrag gerecht zu werden, den die Hauptversammlung des Reformierten Bundes im Mai 2022 in Halle (Saale) dem Moderamen des Reformierten Bundes erteilt hat. Unter dem schrecklichen Eindruck des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegen die Ukraine hatte sich die Hauptversammlung vorgenommen, selbstkritisch den bisherigen friedensethischen Kurs des Reformierten Bundes zu evaluieren, der in der Moderamenserklärung „Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche“ (1982) seinen Ausgang genommen und in den Leitsätzen eines Zwischenrufs zur Friedensverantwortung der Kirche (2017) eine Aktualisierung erfahren hatte.

In einem bedrängenden Maße hatte sich in der Zwischenzeit global eine bedrohliche Entwicklung hinsichtlich der Bereitschaft abgezeichnet, Konflikte zunehmend auch wieder mit Waffengewalt auszutragen. In Halle wollten wir überprüfen, ob diese Leitsätze angesichts des einseitig begonnenen russischen Angriffskrieges noch aussagekräftig sind, bzw. ob sie möglicherweise ergänzt oder in der aktuellen Situation neu justiert werden müssen. Da auf der Hauptversammlung die Diskussion nur begonnen werden konnte, wurde das Moderamen gebeten, sich weiter mit diesem komplexen Thema zu beschäftigen. Das vorliegende Votum ist keine neue „Friedenserklärung“, sondern eine aktuelle Betrachtung der heute zentralen Leitsätze des Zwischenrufes von 2017.

Wir wenden uns mit diesem Votum vor allem an unsere Mitglieder und an interessierte Gemeinden, die in der komplexen aktuellen Situation nach einer Orientierung suchen, die unserer besonderen Bekenntnistradition gerecht wird. Wir wünschen uns, dass wir mit diesem Text dazu beitragen, dass in der weithin polarisierten Situation jenseits von schwarz und weiß vermehrt auch Zwischentöne in die Wahrnehmungen und Diskussionen einfließen. Damit hoffen wir, wenigstens einen kleinen Teil der uns aktuell auferlegten theologischen und ethischen Verantwortung übernehmen zu können.