Friedensfähig, weil freiwillig (2024)
Resolution der AGDF-Mitgliederversammlung 2024 zur Diskussion über Pflichtdienste:
friedensfähig, weil freiwillig
Diskutiert werden aktuell zwei Formen eines Pflichtdienstes junger Menschen: Eine Wehrpflicht in Friedenszeiten, um die Bundeswehr personell zu verstärken, und ein soziales Gemeinschaftsjahr, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu verbessern. Auch eine Kombination wird vorgeschlagen.
Staatlicher Eingriff in Freiheitsrechte junger Menschen
Durch die Einführung eines Pflichtdienstes greift der Staat gravierend in die Freiheitsrechte seiner Bürger*innen ein. Dies darf er laut Grundgesetz nur in besonderen, begründeten Fällen, so für den Dienst von Männern in den Streitkräften (Art 12 a). In diesem Fall entfaltet das Menschen- und Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung (Art 4, Abs. 3) seine Wirkung.
- Diskussion zur Wehrpflicht
Die Wehrpflicht in Friedenszeiten[1] wurde 2011 ausgesetzt, da die vom Bundesverwaltungsgericht 2005 geforderte Wehrgerechtigkeit[2] seit längerer Zeit nicht sichergestellt werden konnte. Eine Zeit- und Berufsarmee schien aus Sicht der Regierenden zumindest bis 2022 den militärischen Anforderungen gerecht zu werden und es wurde nur ein kleiner Teil von ca. 5% eines Jahrgangs benötigt, um den personellen Nachwuchs für die Bundeswehr sicher zu stellen. In Folge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine und einer veränderten Gefahreneinschätzung gibt es seitens des Bundesverteidigungsministeriums nun andere Anforderungen an die Bundeswehr.
Neben mind. 200.000 Soldat*innen im Dienst soll es nach aktuellen Planungen des Bundesverteidigungsministeriums eine Reserve in gleicher Größe geben.
Als Argumente für eine Wehrpflicht, die unter dem Aspekt der Geschlechter-Gerechtigkeit nicht mehr nur für Männer gelten müsste, werden u.a. genannt
- das aktuelle Rekrutierungsproblem der Bundeswehr,
- erhöhte gesellschaftliche Akzeptanz der Bundeswehr,
- dass Bundeswehrsoldat*innen aus möglichst allen gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen (…) Zusammenhängen und Regionen kommen sollten.
Bundesverteidigungsminister Pistorius legte am 12. Juni 2024 einen Plan vor, nach dem zunächst auf eine Wehrpflicht in Friedensdiensten (weitgehend) verzichtet werden soll[3]: Allerdings sollen alle jungen Menschen bei Vollendung ihres 18. Lebensjahres einen Fragebogen erhalten, den Männer ausfüllen müssen (→ Bußgeld bei Verweigerung), da sie weiterhin der Wehrpflicht unterliegen, und alle anderen (w, d) ausfüllen sollen. Werden sie zur Musterung aufgefordert, müssen Männer dieser nachkommen. Eingezogen wird nach Bedarf. Der eigentliche Militärdienst bleibt nach aktuellem Status in Friedenszeiten freiwillig.
Die Pläne des Bundesverteidigungsministeriums (BMVg) sollen einem Personalmangel in der Bundeswehr ein Ende setzen. Dass die Bundeswehr als Freiwilligenarmee aus Sicht des BMVg zu wenige Soldat*innen hat und dass deutlich weniger junge Menschen als gewünscht freiwillig Soldat*in werden wollen, liegt zum einen wahrscheinlich daran, dass die Bundeswehr ein wenig attraktiver Arbeitgeber ist.
Zum zweiten dürfte es auch daran liegen, dass junge Menschen sich nicht vorstellen können einen Beruf zu wählen, bei dem sie bereit sein müssen zu töten – und dies nicht nur wie Polizist*innen zum Selbstschutz oder zur Nothilfe – und bei dem sie das Risiko eingehen müssen, in kriegerischen Auseinandersetzungen selbst getötet zu werden.
Zum dritten stellen sich junge Menschen die Frage, für welchen Zweck sie ihr Leben riskieren sollen. Sind die Aufträge und Einsätze der Bundeswehr sinnvoll bzw. erforderlich? Bedarf es generell einer militärischen Landes- und Bündnisverteidigung?
Diese Fragen richten sich auf das gesellschaftliche Verständnis von Sicherheit und Frieden und wie beide zu erreichen sind. Erst in diesem größeren Zusammenhang lässt sich beantworten, welche Schutz- und Verteidigungskonzepte wir brauchen. Es geht also um ganz grundsätzliche sicherheitspolitische Perspektiven und Herausforderungen:
- Ist angesichts der verheerenden Folgen militärischer Gewalt und der sehr begrenzten Möglichkeiten, ein dicht besiedeltes Land mit einer fragilen Infrastruktur militärisch zu verteidigen? Oder sind Formen sozialer Verteidigung adäquater und geboten?
- Sollte Deutschland nicht durch erheblich mehr Ressourcen und Maßnahmen für die konsequente Bekämpfung der Ursachen für kriegerisch ausgetragene Konflikte, Krisenprävention und für Instrumente der zivilen Konfliktbearbeitung zum Frieden in der Welt beitragen, anstatt Milliarden in die Bundeswehr zu investieren und diese auszubauen?
- Inwieweit nutzt und stärkt Deutschland hinreichend seine Instrumente und Möglichkeiten der Diplomatie, zur Stärkung des Völkerrechtes und seiner Organe sowie die Strukturen gemeinsamer Sicherheit und Zusammenarbeit?
Eine adäquate Diskussion zur Wehrpflicht ist daher nicht zu trennen von einer umfassenden gesellschaftspolitischen Diskussion über Sicherheit und Frieden, die in einen breit getragenen gesellschaftlichen Konsens über die Rolle und Aufgaben von Instrumenten der Diplomatie, ziviler Konfliktbearbeitung und der Bundeswehr münden sollte.
An dieser Stelle ist zu betonen, dass die reale Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung nicht nur ein Menschenrecht und in der Bundesrepublik Grundrecht gemäß GG Art. 4.3. ist, sondern auch Prüfstein für jede Armee in einer Demokratie ("Staatsbürger*in in Uniform"). Des Weiteren ist jegliche Rekrutierung Minderjähriger, auch wenn eine Ausbildung an Waffen erst später erfolgt, kategorisch abzulehnen.
- Diskussion zum sozialen Pflichtdienst
Von unterschiedlichen politischen Seiten wird aktuell vermehrt die Einführung eines sozialen Pflichtdienstes gefordert.
Gegen die Einführung eines solchen verpflichtenden Dienstes sprechen neben der Beschränkung der Freiheitsrechte von (jungen) Menschen die entsprechend hohen verfassungsrechtlichen Hürden und internationale Vereinbarungen bspw. der Internationalen Arbeitsorganisation[4], die Deutschland ratifiziert hat. Dazu kommen extrem hohe Kosten, ein großer bürokratischer Aufwand, ein verstärkter Mangel an Nachwuchs in vielen Branchen nicht nur der Wirtschaft und die nicht einzuhaltende Arbeitsmarktneutralität bei vielen Einsatzstellen. Zudem ist es sehr problematisch, ggf. wenig motivierten Dienstpflichtigen Aufgaben im Umgang mit ihnen anvertrauten, "abhängigen" Menschen zu übertragen. Kritisch ist außerdem, dass nur junge Menschen Aufgaben übernehmen sollen, die gesamtgesellschaftlicher Natur sind. Die junge Generation war schon von den Auswirkungen der Pandemie besonders betroffen und wird dies perspektivisch von der sich verschärfenden Klimakrise sein. Schließlich ist die vorgesehene Einbeziehung von Frauen in eine Dienstpflicht unter Gerechtigkeitsaspekten fragwürdig, weil gerade sie unverändert einen Großteil der Care-Arbeit im Privaten wie für die Gesellschaft leisten.[5]
Nicht zuletzt der Bundespräsident beklagt einen mangelnden Zusammenhalt der Gesellschaft, hinzu kommen Nachwuchsprobleme in sozialen Berufen. Als Lösung dieser Probleme wird u.a. von der CDU die Einführung eines sozialen Pflichtdienstes gefordert. Es ist allerdings mehr als fraglich, ob ein staatlicher Pflichtdienst zu neuem gesellschaftlichem Zusammenhalt und höheren Ausbildungszahlen in sozialen Berufen führt.
Damit sich junge Menschen für die Gesellschaft und deren Zusammenhalt einsetzen, müssen sie davon überzeugt sein. Es ist fraglich, ob dies durch einen Pflichtdienst erreicht werden kann. Dagegen spricht, dass nur etwa 50 % dieser Altersgruppe einen solchen Dienst befürwortet. Innere Bereitschaft kann man aber nicht durch Gesetze und Verordnungen erzwingen. Hinzu kommt, dass ein Pflichtdienst anders als ein Freiwilligendienst nicht als sozialer Lerndienst ausgestaltet werden kann.
Erfolgversprechender ist es, junge Menschen mit ihren Interessen und Bedürfnissen ernst zu nehmen und zunächst gute Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sie sich intrinsisch motiviert und überzeugt freiwillig für Herausforderungen bzw. Aufgaben der Allgemeinheit engagieren, so wie es schon heute vielfach durch die Arbeit der Freiwilligendienste gelingt.
Zudem würde ein Pflichtdienst nicht die Nachwuchsprobleme im sozialen Bereich lösen, vielmehr wird eine Entwertung von professioneller Arbeit im sozialen Bereich befürchtet. Hierzu bedarf es vielmehr anderer Maßnahmen, z.B. einer angemessenen Bezahlung aber auch attraktive Einsatzplätze für Freiwillige, durch die deren Interesse für diese Berufsfelder geweckt wird.
Auf systemischer Ebene stellt sich kontinuierlich die Frage, wie Demokratie und Partizipation sowie der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt werden können. Dabei übernehmen zivilgesellschaftliche Akteure eine zentrale Funktion, die wesentlich von ehrenamtlicher Arbeit getragen wird. Eine staatliche Dienstpflicht könnte die Arbeit der Freiwilligendienste schwächen; ehrenamtliches Engagement dürfte zurückgehen.
Konsequenzen:
Die Diskussionen um Pflichtdienste zeigen:
Die rechtlichen Hürden und inhaltlichen Nachteile eines Pflichtdienstes werden in der Diskussion vernachlässigt. Ein sozialer Pflichtdienst wird die beklagten Defizite nicht beseitigen.
Fraglich ist, ob die angeführten Gründe für eine Wehrpflicht in Friedenszeiten gerechtfertigt sind.
Über eine Wehrpflicht bzw. eine (personelle) Aufrüstung der Bundeswehr sollte nicht diskutiert werden, ohne sich auf breiter gesellschaftspolitischer Ebene auch bzw. zunächst damit auseinanderzusetzen, vor welchen friedens- und sicherheitspolitischen Herausforderungen Deutschland und Europa nach dem russischen Angriffs- und Annexionskriegs gegen die Ukraine, angesichts der globalen Auswirkungen der Klimakrise, aber auch mit Blick auf die innergesellschaftlichen Probleme wie rechtsextreme und autoritären Tendenzen steht. Welchen Beitrag kann vor diesem Hintergrund Deutschland in Europa leisten, um zu einem gerechten Frieden, der Wahrung des Völkerrechts und mehr Sicherheit in der Welt beizutragen?“
Für eine Stärkung des sozialen Zusammenhalts und der Demokratie ist es notwendig, das Potential von Freiwilligendiensten besser auszuschöpfen. Junge Menschen, die sich freiwillig in einem Lerndienst für ein Jahr im In- und Ausland für andere oder die ökologische Mitwelt engagieren, setzen sich aufgrund ihrer besonderen Erfahrungen sehr häufig für ihre Mitmenschen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Verantwortung für die Eine Welt ein. Zugleich wird eine vielfältige Zivilgesellschaft gestärkt, wenn sich Träger, Einsatzstellen und Partnerorganisationen für benachteiligte und bedürftige Menschen, für die natürliche Mitwelt, Demokratie und generell ein besseres Zusammenleben engagieren. Internationale Freiwilligendienste ermöglichen jungen Menschen interkulturelle Lernerfahrungen, fördern die Wertschätzung einer vielfältigen Gesellschaft und eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit.
Konkret fordern wir von Bundesregierung und Bundestag
- einen Rechtsanspruch auf einen geförderten Freiwilligendienstvertrag,
- einen Beitrag zu einer Information aller junger Menschen über Freiwilligendienste,
- die Förderung einer „Kultur der Freiwilligkeit“ und eine größere Anerkennung des freiwilligen Engagements,
- ein Demokratiefördergesetz und eine dauerhafte Förderung des zivilgesellschaftlichen Engagements in diesem Feld,
- ein modernes Gemeinnützigkeitsrecht, das Vereinen ohne Angst vor Entzug der Gemeinnützigkeit Aktivitäten für Demokratie und Menschenrechte ermöglicht.
Die AGDF wird als Dach- und Fachverband der Friedensarbeit die Zielsetzungen und Erfahrungen ihrer 31 Mitglieder in Friedensbildung, Ziviler Konfliktbearbeitung und Krisenprävention, Friedens-, Versöhnungs- und Menschenrechtsarbeit sowie grenzüberschreitenden Fach- und Friedensdiensten weiter stärken und in den politischen Diskurs einbringen. Diese zivilgesellschaftlichen Aktivitäten zu fördern, liegt im gesamtgesellschaftlichen und staatlichen Interesse.
Beschlossen am 21. September 2024 in Berlin
[1] Kein Spannungs- oder Verteidigungsfall
[2] Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Wehrgerechtigkeit, https://www.bverwg.de/190105U6C9.04.0
[3] https://www.youtube.com/watch?v=9lPfolYK7mo
[4] https://www.ilabour.eu/
[5] Weitere Argumente gegen einen Pflicht- und für einen Freiwilligendienst: https://bak-fsj.de/2024/05/beitraege-zur-pflichtdienstdebatte-zahlreiche-stimmen-fuer-freiwilligkeit-und-ausbau-bestehender-dienste/