Es geht auch um Gehorsam gegenüber Jesu Wort - Interview mit dem EKD-Friedensbeauftragten (2024)

Herr Kramer, welche biblischen Texte sind für Ihr friedenstheologisches
Nachdenken besonders wichtig?

Der Vers, auf den der Buchtitel zurückgreift, „der Friede Gottes, der höher
ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus“ ist
für mich eine ganz zentrale Stelle. Er fordert mich dazu heraus, einer höheren
Vernunft zu folgen. An dieser Frage der Vernunft brechen auch in dem
friedensethischen Konsultationsprozess, den die EKD momentan durchführt,
die Konflikte und verschiedenen Meinungen auf.

Wenn wir Jesus nachfolgen, können wir den Worten von der Feindesliebe
und der Gewaltlosigkeit nicht ausweichen, ebenso wenig den Texten, die
sagen, dass man das Böse nicht mit Bösem, sondern mit Gutem beantworten
soll. Diese Worte leiten mich zu einer pazifistischen Grundposition, weil ich
sie im Gehorsam gegenüber Jesus ernst nehme, und zwar so, wie sie dastehen
– auch wenn ich weiß, dass alle diese Texte einen besonderen Kontext haben,
den es mit zu bedenken gilt. Es ist schwer, diese Entscheidung in eine Diskussion,
die anderen Prämissen folgt, einzubringen. In der Friedensdiskussion
treffen verschiedene Vernunftvorstellungen aufeinander. Die Logik der
Abschreckung, die Kriegslogik und die Sicherheitslogik folgen in sich nachvollziehbaren
und logischen Argumentationslinien. Aber auch angesichts der
logisch erscheinenden Argumente, die davon ausgehen, dass die Welt gefallen
ist und dass man in dieser gefallenen Welt den Nächsten schützen muss, ist es
meines Erachtens biblisch geboten, mit einem Frieden, der höher ist als alle
Vernunft, zu rechnen. In der Schrift tut sich ein großer Horizont auf, von der
Menschenwürde in der Schöpfungsgeschichte über das Verbot, Menschenblut
zu vergießen, bis hin zur Offenbarung des Johannes, die von fürchterlichen
Kriegen erzählt, an denen sich aber gerade die Gläubigen nicht beteiligen.
Sie halten daran fest, auch in schwierigsten Situationen nicht in den Kampf
zu ziehen. Wenn wir uns von diesem Verstehenshorizont leiten lassen – ich
weiß nicht, inwieweit das eine eigene Entscheidung ist, oder ob wir vom Geist
dahin gedrängt werden –, merken wir, wie schwer es ist, diesen Weg in den so
genannten vernünftigen Diskussionen durchzuhalten. Ich bin aber froh, dass
in der Kirche nicht mehr der der schlimmste Feind ist, der das Friedenswort
Jesu konkret einfordert oder für sich leben will, wie das noch zu Zeiten der
Verfolgung der Täufer der Fall war. Heute gibt es in unseren Kirchen einen
spürbaren Respekt vor pazifistischen Positionen.


Gibt es biblische Texte, die die Durchhaltefähigkeit und Resilienz Ihres Friedensengagements
in besonderer Weise stärken?

Die Bergpredigt mit ihrem wunderbaren Anfang wird mir immer wichtiger.
Meine These ist, dass die Bergpredigt mit einem Gesang beginnt. Achtmal
hören wir makarioi (hebräisch aschar) „glücklich“ bzw. „selig“ – das Wort,
mit dem Psalm 1 beginnt und damit der ganze Psalter. In Psalm 119, im güldenen
ABC, findet sich dieses Wort zu Beginn zweimal. Lukas hat vier Seligpreisungen
und vier Weherufe und bei Matthäus stehen acht Seligpreisungen
ohne jeden Weheruf – ein Seligpsalm

Vor allem anderen steht also zum Beginn der große Gesang, der mich in die
Verheißung Gottes hineinholt. Ich stelle mir Jesus an dieser Stelle singend vor.
Das ändert das Setting. Jesus tritt nicht als Lehrer auf, der sagt, wo es lang geht,
sondern als einer, der uns in die Himmelsmusik mit hineinnimmt. Friedensengagement
braucht genau diese Haltung, die schon jetzt vom Himmel singt
und sich genau darin einübt. In diese Haltung stimmen die Seligpreisungen ein.
Ich betrete einen Raum, in dem Menschen seliggepriesen werden, die nach der
weltlichen Vernunft als Verlierer, Naive, nicht Durchsetzungsfähige gelten. Und
hier werden sie seliggepriesen bis hin zur Seligpreisung der Friedensstifter.

Manche Botschaften lassen sich besser singend transportieren und einüben.
Psalmen immer wieder zu singen, macht sprachfähig und resilient.
Erst nachdem gesungen wurde, kommen die Metaphern vom Salz und vom
Licht. Ohne euch schmeckt es nicht, und wenn ihr nicht leuchtet, wird hier
gar nichts hell. Und dann geht‘s ins Konkrete: Ich kann etwas für den Frieden
tun. Uns ist gesagt, dass es auf unsere Gerechtigkeit ankommt, die besser
sein soll, als die Vorstellungen, die da sind. Es geht nicht darum, dass ich
bestimmte Anschauungen für wahr halten soll, sondern es geht darum, Frieden
zu praktizieren, zum Beispiel, dass der Mord schon mit der bösartigen
Rede beginnt und die Abwege mit dem gierigen Blick. Feindesliebe und kreative
Reaktion auf Gewaltzumutungen werden vorgeschlagen. Noch eine Meile
mehr gehen oder die andere Wange hinhalten, statt zurückzuschlagen. Aber
dem allen geht die Zukunftsmusik voran, und wie alle göttliche Musik ist sie
Friedensmusik, die einen Friedensraum öffnet.


Hat die Bergpredigt für Sie einen anderen Charakter als andere biblische Texte?

Ja, sie ist eine großartige Rede, aber es geht nicht nur um das Verstehen der
Texte und um ihre Übertragung in die Gegenwart, sondern es geht um Gehorsam.
Wenn ich zu Jesus gehöre, bin ich dem, wozu er ruft, verpflichtet.
Natürlich ist mir deutlich, dass alle Texte ihre Kontexte haben, auch die
Bergpredigt. Und auch die Kontexte der Hörenden spielen eine große Rolle.
Wenn ich sage, dass ich in der DDR groß geworden bin und sich von daher
mein Friedensengagement speist, höre ich oft: „Vor diesem Kontext verstehe
ich Ihr Friedensengagement“. Umgekehrt gilt das auch für mich im
Blick auf andere Kontexte, die ich verstehen kann. Obwohl es uns allen nicht
leichtfällt, die eigene Kontextualität zu akzeptieren. Dass einer vielleicht
leichter für Waffenlieferungen heute ist, weil er in der Bundesrepublik groß
geworden ist, wo es ganz normal war und ist, dass Militärs in den Gottesdienst
gehen, zur Gemeinde gehören und ihren Dienst als Christen versehen.
Die Positionen, die wir vertreten, haben oft mit lebensgeschichtlichen
Erfahrungen zu tun. Um sich zu verständigen ist es unerlässlich zu lernen,
was andere im Kontext ihres Lebens als heilsam entdeckt und als Evangelium
gespürt haben, und dies ernst zu nehmen.


Die biblische Überlieferung spricht von einem universalen Friedenswillen Gottes
und von seiner Parteilichkeit für die Opfer von Gewalt. Wie bringen Sie diese
beiden Pole in Einklang?

Schutz, der Menschen vor Gewalt bewahrt, ist nötig. Wir können nicht
zulassen, dass Menschen andere Menschen quälen, Kinder missbrauchen
oder Menschenhandel betreiben. Es muss eine Macht geben, d.h. es muss
Menschen geben, die die demokratisch legitimierte Macht haben, dem Einhalt
zu gebieten. Mein Pazifismus geht nicht soweit, dass ich polizeiliche
Gewalt bestreite. Ich halte auch Landesverteidigung nicht für abwegig.
Wenn aber die bösen Kräfte überhandnehmen, darf der Kampf gegen diese
Kräfte nicht militärisch werden, d.h. nicht auf Zerstörung angelegt sein.
Denn sonst tritt man selbst heraus aus dem, was man schützen will. Wenn
ich, um Opfer zu schützen, Opfer schaffe, zerstöre ich den Rechtsraum, den
ich angetreten bin zu schützen. Wir wissen, dass auf allen Kriegsschauplätzen
Menschenrechtsverletzungen stattgefunden haben. Diese Gräuel finden
nicht statt, weil irgendjemand besonders böse ist, sondern weil Gewalträume
sich öffnen, statt Rechtsräume. Gegen die Zustimmung zu solchen
Gewalträumen braucht es Widerstand, weil sich diese Räume sonst ausbreiten.
Krieg ermöglicht die völlige Entgleisung. Deswegen braucht es selbst
im Verteidigungsfall den Vorbehalt dagegen. Diese Dialektik ist nötig. Man
muss sozusagen im Bewusstsein behalten, dass die Polizei das Recht bricht,
um es zu halten. Deshalb ist es sinnvoll, von Polizeigewalt zusprechen, weil
die Polizei – wenn es mit rechten Dingen zugeht – an Recht und Ordnung
gebunden ist und jede Gewaltanwendung rechtfertigen muss. Außerdem ist
dann ganz klar, dass es bei allem Einschreiten gegen Gewalt, immer darum
geht zu deeskalieren, damit es nicht zu Gewaltexzessen kommt. Wenn
Gewalt eingesetzt wird, muss dies gezielt und knapp geschehen und kein
Raum dafür gelassen werden, dass Gewalt sich verselbstständigt. Im Krieg
aber, der länger dauert, ist das immer der Fall. Sobald man Krieg führt und
der Tod des Feindes das Ziel ist, lässt man sich ein auf eine nicht mehr
berechenbare Ausweitung der Gewalträume. Im Krieg wird alles zerstört,
worüber die Menschenrechte reden. Es gibt keine demokratischen Abstimmungsprozesse
mehr, es gibt keine Diversität mehr, kein Recht auf Leben,
Gesundheit und Bildung. Alle Menschenrechte fallen hintüber. Das hat
unsere Welt nach dem Zweiten Weltkrieg gut verstanden und klar beschrieben.
Krieg ist verboten. Dem habe ich nichts hinzuzufügen.


Hat die Verheißung, dass die Völker ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden
werden, in Ihrem Leben eine große Rolle gespielt?

Das Wort „Schwerter zu Pflugscharen“ ist mir zuerst als Jugendlicher in
der Friedensdekade begegnet. Ein Freund von mir hatte sich das auf Vlies
gedruckte Zeichen ausgeschnitten und aufgenäht. Ich selbst wollte das
nicht. Damit begann eine Auseinandersetzung über die Fragen, wie wir uns
bekennen, wie wir an die Öffentlichkeit treten. Wir waren bei Friedensgebeten
dabei, haben Musik gemacht und für den Frieden gebetet – das
verbinde ich mit „Schwerter zu Pflugscharen“. Das Friedensgebet als den
Ort, wo alles, was in einem tobt und rumort, auf dem Amboss des Wortes
Gottes verändert werden kann, damit aus allem, was einen kirre macht,
etwas Gutes herauskommt. Auch damit man von den Bildern der Gewalt
nicht wahnsinnig wird. Wir hatten damals den Atomtod vor Augen, es war
die Zeit des russischen Afghanistankrieges. Die Gebete – immer unter der
Überschrift „Schwerter zu Pflugscharen“ – waren eine Quelle von Trost und
Kraft. Sie hatten auch etwas von der typisch ostdeutschen Schlitzohrigkeit
oder Cleverness, sich auf ein Denkmal zu beziehen, dass die Sowjetunion
der UNO geschenkt hatte. Eigentlich konnte niemand gegen das Zeichen
„Schwerter zu Pflugscharen“ Einwände erheben, wenn wir uns damit gegen
die Nachrüstung und die SS 20 ausgesprochen haben.

Später war ich in New York und hab mir das Denkmal live angesehen.
Auch dieser verknotete Revolver daneben bleibt ein starkes Zeichen dafür,
dass die UNO ein großes Friedensprojekt ist, eine wichtige Erinnerung für
alle, die gegenwärtig zu einer Ordnung zurückkehren wollen, in der Krieg
normal ist. Alle haben unterschrieben, dass Krieg verboten ist. Es geht heute
darum, weiter daran zu arbeiten, dass diese Unterschrift Realität ist. Umso
bitterer ist es, das Symbol „Schwerter zu Flugscharen“ auf AfD-Demos zu
sehen, einer Partei, die mit ihrer Menschenverachtung wahrhaftig keine
Friedenspartei ist.

Das Symbol „Schwerter zu Flugscharen“ ist deutschlandweit das Zeichen
der Friedensdekade geworden. Mir ist es auch vor dem Hintergrund eigener
Erfahrungen ein großes Bedürfnis, die Leute zu ermutigen: Betet, betet! Wir
haben die große Zusage „wo zwei oder drei in meinem Namen zusammen
sind, da bin ich mitten unter ihnen“. Setzt Euch dem aus, dass wir unsere
Ängste und Befürchtungen ablegen können in Gottes Hand, und Gott daraus
etwas schmiedet, was zum Pflügen ist und nicht nur zum Angst haben.


Glauben Sie angesichts der faktischen Macht solcher Gewalträume, dass beten für
den Frieden hilft?

Ja, das Friedensgebet ist essenziell, gerade in Zeiten der Gewalt. Das Beten
und Tun des Gerechten! Beides gehört zusammen. Beten muss Ausdruck
einer ganzheitlichen Lebenshaltung sein, die sich auch in meinen Taten
zeigt. Was in Kriegszeiten geschieht, lässt die Mehrheit der einzelnen Bürgerinnen
und Bürger ohnmächtig zurück. Dann ist das Gebet die Stimme
und der Ort, wo die eigenen Gefühle, die eigene Ohnmacht, die Verzweiflung
und auch das Mitgefühl in eine Sprache finden. Natürlich entsteht mit
dem Gebet auch eine gewisse Ambivalenz, weil die Idee naheliegt, dass Gott
den Kriegen wehrt oder gar die Kriege steuert, und die Frage entsteht, ob
wir zu einem großen Kriegsherrn beten. Das glaube ich nicht. Gott hat sein
Gesicht in Jesus Christus gezeigt als einer, der das Ohnmachtskleid der
Liebe anlegt. Diese Liebe ist stärker als der Tod, stärker als aller Hass, alle
Gewalt und aller Krieg. Darauf setze ich, auch im Gebet. Dem vertraue ich
mich an. Ich weiß, dass es etwas gibt, das einen längeren Atem hat als mein
Atem und eine höhere Vernunft als meine Vernunft.


Welche Rolle spielt das Wort Versöhnung in Ihren Überlegungen?

Für mich ist das Friedensthema ein christologisches Zentralthema. Jesus
Christus stirbt für die Sünden der Welt. Dieses große Versöhnungsgeschehen
besteht nicht darin, gewaltsam Recht herzustellen, sondern im Erleiden
das Recht herzustellen.

Wir hören von einer Liebe, die alles duldet, die alles erträgt, die klar
und wahrhaftig spricht, aber der es nicht darum geht, sich gegen andere
durchzusetzen und andere zu beherrschen, sondern dienend und erleidend
den Frieden voranzubringen. In unseren Debatten um Friedensethik gibt es
zu oft den Gestus der Selbstgerechtigkeit. Pazifisten versuchen anderen zu
erklären, wie es eigentlich richtig sein müsste. Das funktioniert nicht, gerade
dann nicht, wenn das Gegenüber eine andere Vorstellung vom Frieden hat.
Wir müssen eine Schule der Sanftmut – eine Sanftmutsschule – durchlaufen,
in der wir lernen, wie wir sanftmütig und freundlich, ohne Rechthaberei
und Gewalt den Frieden ausbreiten können. Die Verheißung, dass die Sanftmütigen
das Erdreich besitzen werden, ist letztendlich auch eine zentrale
Friedensverheißung. Die Gewalttätigen werden das Erdreich nicht besitzen.
Sie verlieren es, indem sie es mit Gewalt an sich reißen und damit das, was
die Welt ausmacht, verlieren – nämlich die Vielstimmigkeit, die Vielfalt,
das Wechselspiel der Beziehungen. Es ist wie in der Liebe, gewaltsam wird
alles zerstört. Dass der Frieden Gottes höher ist als alle Vernunft, meint
genau diese nicht verstehbare Kreuzestheologie. Immer wieder taucht die
verzagte Frage auf: Soll das der Weg sein? Das kann doch nicht wahr sein!
Die Versuchung – auch in der Friedensdebatte – ist, dass wir Victoria rufen
wollen, ohne durch das Kreuz gegangen zu sein. Doch das geht nicht. Der
Victoriaruf am Ostermorgen hat nicht andere Menschen vernichtet und niedergeknüppelt,
sondern ist durch das Kreuz gegangen und hat damit Sünde,
Tod und Teufel besiegt, wie es in den alten Liedern heißt.

Zugleich ist es unmöglich, Vergebung von denen zu fordern, die Opfer
von Gewalt werden. Leider schleppen wir diese Vergebungskeule mit uns
herum! Aber mir ist aufgefallen, dass Jesus am Kreuz selbst nicht vergibt. Er
betet: Vater vergib ihnen! Er legt die Vergebung in Gottes Hände. Er betet,
an der Stelle, wo er nicht weiterkann, wo es nicht weiter geht. Aber gleichzeitig
bleibt er in der Perspektive der geforderten Vergebung. Er verflucht
seine Feinde nicht. Jesus betet am Kreuz in der schlimmsten Gewalterfahrung
und legt die Vergebung in Gottes Hände. Wenn ich dieses Gebet auf
die Friedensethik übertrage, heißt das einerseits, du sollst dich und andere
nicht überfordern, und gleichzeitig konsequent an der Friedensverheißung
und Vergebung festhalten und das Verheißene in Gottes Hände legen. Deshalb
ist das Gebet das Zentrum unseres Friedensengagements, mit dem wir
uns mit der großen Friedensbewegung Gottes, die sich in Jesus Christus
zeigt, verbinden. Es schafft einen Raum, in dem es möglich ist, diese Zielperspektive
nicht zu verlieren. Wenn wir Friede mit Russland nicht mehr
mitdenken, selbst wenn wir jetzt im Konflikt sind und keinen Ausweg wissen,
dann ist etwas Entscheidendes weggebrochen, das unheilvolle Folgen
haben wird. Die Aufgabe der Christen und Christinnen ist es, diese Perspektive
immer wieder aufzumachen und einzubringen.


Was bedeutet „durchs Kreuz gehen“, wenn es doch darum geht, Friedensräume
zu gestalten?

Natürlich geht es nicht um Leiden um des Leidens willens! Fröhliche Friedensfeste
braucht es genauso wie die Feier des Lebens mitten in einer
gewalttätigen Welt. Tägliche Friedensräume sind wichtig, in denen wir lernen,
Konflikte ohne Gewalt auszutragen, in denen wir lernen, gewaltfrei zu
reden und den anderen gelten zu lassen. Solche Übungsfelder des Friedens,
die mit täglicher Praxis zu tun haben, sind ein Geschenk und Aufgabe. Doch
das Gestalten von Friedensräumen wird nicht bedeuten, dass ich in einer
Welt voller Gewalt leidfrei bleibe, wenn ich mich für Gerechtigkeit und Frieden
und die Bewahrung der Schöpfung einsetze. Wenn ich mein Herz öffne,
wird es mitleiden. Es wird sich im hier und heute nicht alles in Frieden
und Freude verwandeln. Die Erzählung vom Kreuz unterbricht den globalen
Gewaltzusammenhang, indem sie den Reflex zur Gegengewalt unterbricht,
und wir geraten an die Seite der Opfer von Gewalt. Hier entstehen neue
Friedensräume nicht dadurch, dass ich mich in Aktivismus stürze, sondern
indem ich den Betroffenen von Gewalt zuhöre und mitleide. Die Gewaltopfer
rücken ins Zentrum. Sie bekommen Raum, sie dürfen reden, und die
normalen Abwehrmechanismen, mit denen wir uns ihre Erfahrungen vom
Leibe halten, greifen nicht mehr. In diesem solidarischen Zuhören und Helfen
wird Kreuzestheologie Praxis.


Ist Friedenstheologie allein für den internen Klärungsprozess wichtig, oder
gibt es einen spezifischen Beitrag der Theologie und dann auch der Kirchen
zum Thema Frieden?

Diese Alternative sehe ich so nicht. Wir versuchen im Raum der Kirche Klarheit
zu gewinnen, um uns dann an gesellschaftlichen Prozessen beteiligen
zu können, und merken, dass diese Klarheit und Eindeutigkeit nicht vorhanden
ist. Es gibt keine Klarheit darüber, dass Frieden das Ziel ist und nicht
Sieg. Es gibt keine Klarheit darüber, wie wir zu der Vernichtung und Tötung
von Feinden stehen. Das heißt, in dem Gespräch unter den Geschwistern
wird deutlich, dass es das Außen und Innen gar nicht gibt. So gibt es auch
nicht hier die Kirche, die ganz nach Jesu Wort lebt, und dort die böse Welt.
Wir alle sind in unterschiedlichen Resonanzräumen unterwegs und wir erleben,
dass Bindungen an die Welt oft höher sind als die Bindung an das Wort
Gottes. Das gilt für jede und jeden. Wir müssen uns immer wieder wechselseitig
die Frage stellen, ob wir noch auf die Schrift und auf das, was Jesus
sagt, hören und uns darüber beraten und streiten. Oder halten wir nur an
etwas fest, das nicht mehr in die Zeit gehört und angesichts der gegenwärtigen
Herausforderungen gar nicht mehr passt? Oder geben wir zu schnell
alles auf, was wir erkannt haben, weil die neue Situation so (sch)eindeutig
dagegenspricht?

Gleichzeitig können die Kirchen einen wichtigen Beitrag für die Friedensperspektive
der säkularen Gesellschaft leisten. Besonders in Deutsch150
land ist dieser Beitrag bisher groß, weil die Kirchen nach dem Zweiten Weltkrieg
maßgeblich an der Aufarbeitung von Schuld, an der Erinnerungs- und
Versöhnungsarbeit und der Erkenntnis, dass Waffen und Krieg ausgehend
von Deutschland Unglück über viele Völker gebracht haben, beteiligt waren.
Insbesondere im ostdeutschen Kontext haben die Kirchen als Freiräume in
der der friedlichen Revolution eine wichtige Rolle gespielt, haben als solche
heilsame Friedens- und Versöhnungsräume eröffnet. Sie werden bis heute
positiv mit der Friedensfrage verbunden. Diese wichtigen Impulse, die die
Kirchen gegeben haben, gilt es weiter fortzusetzen und nicht zu verspielen.
Die Kirchen sind eine wichtige Stimme des Friedens und Zeuginnen der
Friedensbewegung Gottes in dieser Welt.

aus: Klara Butting & Gerard Minaard (Hrsg.), Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft. 
Biblische Grundlinien, Uelzen: Erev-Rav 2024, S. 139-146.