Experte: Lehren aus Afghanistan-Einsatz werden nicht gezogen
Am 19. Februar legt die Enquete-Kommission des Bundestages ihren Zwischenbericht zum Afghanistan-Einsatz vor. Der Konfliktforscher Conrad Schetter bezweifelt, dass der Bericht viel ändert. Er fordert für die Zukunft Expertengremien für jeden Einsatz.
Frankfurt a.M. (epd). Der Konfliktforscher Conrad Schetter bezweifelt, dass aus der Aufarbeitung des Afghanistan-Einsatzes tatsächlich Lehren gezogen werden. „Die beteiligten Ministerien werden wahrscheinlich sagen, was im Bericht ist, wissen wir und haben wir alles geändert“, sagte der Direktor des Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC) dem Evangelischen Pressedienst (epd). Doch das sei weder im Umgang mit Afghanistan noch mit anderen Krisenregionen zu beobachten. Am Montag veröffentlicht die Enquete-Kommission des Bundestages zum Afghanistan-Einsatz einen Zwischenbericht mit den Ergebnissen aus rund anderthalb Jahren Arbeit.
So behalte der Vorwurf der Kommission, die Beteiligten hätten nicht genug über Afghanistan gewusst, seine Gültigkeit, kritisierte Schetter, der sich seit Jahrzehnten mit dem Land beschäftigt. „Das Wissen über die Konfliktregionen ist eigentlich nicht gegeben, sondern man geht entweder mit vorgefertigten Meinungen rein oder mit einer guten Portion Ignoranz.“ Das habe sich in Mali wiederholt, und auch bei der Ukraine gebe es keine Anzeichen für eine Änderung.
Dem Forscher zufolge wurden die Spitzen der beteiligten Ministerien und auch die Abgeordneten, die dem Afghanistan-Einsatz zustimmen mussten, nicht ausreichend über die Lage informiert. „Die politischen Entscheidungsträger haben Entscheidungen getroffen, ohne zu wissen, was in dem Land passierte.“ Das habe auch an mangelnder Transparenz zwischen den Beteiligten gelegen. Zwar sei es schwierig, in einem Konfliktkontext transparent über Lage und Pläne zu informieren, weil sie den gegnerischen bewaffneten Akteuren nutzen könnten. Aber es gebe geschützte Räume, um etwa dem Bundestag Rechenschaft abzulegen.
Für künftige Missionen müssen sich Schetter zufolge also die Entscheidungsstrukturen ändern. Auch brauche es für jeden Einsatz ein unabhängiges Expertengremium, das die Politik begleite und informiere. Zudem solle Deutschland unabhängiger von den USA agieren, forderte der Experte. „In Afghanistan hat sich die Bundesregierung immer weggeduckt und die Entscheidungen den Amerikanern überlassen.“ Damit habe man es versäumt, selbst politische Verantwortung zu übernehmen und einen eigenen Kurs zu entwickeln. Vielen Beteiligten sei es außerdem nicht in erster Linie um Afghanistan gegangen, sondern darum, den USA nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 einen Gefallen zu tun.
An Geld habe es hingegen nicht gefehlt, betonte der Friedensforscher. „Die Ressourcen, die da waren, sind nur wahnwitzig völlig falsch eingesetzt worden.“ Zudem war das Ziel Schetter zufolge von Anfang an unrealistisch. „Man ging teilweise davon aus, dass Afghanistan nach zehn Jahren eine blühende Ökonomie mit einer wunderbar funktionierenden Demokratie sein würde.“
Nun bleibe nichts anderes übrig, als mit der Talibanregierung zu kommunizieren, damit das Land nicht im Teufelskreis humanitärer Krisen bleibe, sagte Schetter. Da sei die aktuelle Bundesregierung aufgrund der feministischen Außenpolitik zu wenig pragmatisch. „Eine Zusammenarbeit mit den Taliban ist sehr wichtig, um den Frauen im Land das Überleben zu ermöglichen.“
Hintergrund: Die Enquete-Kommission
Die Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement“ wurde im Sommer 2022 vom Bundestag eingesetzt. Ihre Aufgabe ist es, die 20-jährige Beteiligung der Bundeswehr an den internationalen Militäreinsätzen in Afghanistan von 2001 bis 2021 aufzuarbeiten. Im Fokus steht dabei die Frage, ob militärische Aktivitäten gut genug abgestimmt waren mit polizeilichen, diplomatischen, entwicklungspolitischen und humanitären Maßnahmen, die den Bundeswehreinsatz begleiteten.
Der Kommission gehören zwölf Abgeordnete sowie ebenso viele Sachverständige an, darunter der Politikwissenschaftler Carlo Masala, der Sicherheits- und Friedensexperte Winfried Nachtwei und die Konfliktforscherin Katja Mielke. Vorsitzender der Kommission ist der frühere Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD).
Seit ihrer konstituierenden Sitzung im September 2022 gab es zwölf öffentliche Anhörungen, in denen frühere Verantwortliche aus Bundesregierung, Bundeswehr und Sicherheitsbehörden, Experten und auch Vertreter Afghanistans befragt wurden. Angehört wurden unter anderem der frühere Außenminister Joschka Fischer (Grüne), Ex-Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU), die ehemalige Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD), der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan, und die ehemalige afghanische Frauenministerin Habiba Sarabi.
Laut Einsetzungsbeschluss soll die Kommission spätestens nach der Sommerpause in diesem Jahr ihren Abschlussbericht mit Handlungsempfehlungen für künftige Militäreinsätze vorlegen. Parallel zur Enquete-Kommission befasst sich ein Untersuchungsausschuss des Bundestags mit den Evakuierungsmaßnahmen im Zuge des Abzugs der Bundeswehr aus Afghanistan im Sommer 2021, bei denen viele Helfer der Deutschen zurückgeblieben sind.
Hintergrund: Die Bundeswehr in Afghanistan
Der internationale Einsatz in Afghanistan begann nach den Terror-Anschlägen in den USA vom 11. September 2001. Ein Beschluss des UN-Sicherheitsrats machte noch im selben Jahr den Weg für die Isaf-Mission frei, die ab 2003 unter Führung des Militärbündnisses Nato stand. Ziel war, Afghanistan von Terrorunterstützern zu befreien und das Land nach jahrzehntelangem Bürgerkrieg aufzubauen und zu stabilisieren.
Die Bundeswehr war seit Anfang 2002 dabei, einige Jahre später übernahm Deutschland die Verantwortung für die Nordregion Afghanistans. 2015 folgte auf Isaf die Nachfolgemission „Resolute Support“, deren Auftrag es war, nach der Übernahme der Sicherheitsverantwortung durch die afghanische Regierung mit Ausbildung, Beratung und Unterstützung zur Seite zu stehen. Nach einer Entscheidung der USA zum Abzug ihrer Truppen und inmitten einer Rückkehr der radikalislamischen Taliban folgte 2021 ein Nato-Beschluss zum Ende der Mission. Ende Juni 2021 verließen auch die letzten deutschen Streitkräfte Afghanistan.
Rund 160.000 deutsche Soldatinnen und Soldaten leisteten in den fast 20 Jahren Dienst in Afghanistan, 59 verloren dabei ihr Leben. Für Schlagzeilen sorgte in Deutschland die sogenannte Kundus-Affäre, als bei einem Nato-Luftangriff auf zwei Tanklaster im September 2009 Dutzende Afghaninnen und Afghanen getötet wurden. Den Angriff hatte der deutsche Kommandeur vor Ort angeordnet, der befürchtete, dass Taliban-Kämpfer die Lastfahrzeuge als rollende Bomben einsetzen könnten.
Kurz nach dem Abzug der internationalen Truppen übernahmen die Taliban wieder die Macht in Kabul. Mitte August 2021 wurde die Bundeswehr daher erneut in Afghanistan eingesetzt, als mehr als 20 Länder am Flughafen Kabul eine Luftbrücke einrichteten, um ihre Staatsangehörigen sowie schutzbedürftige Afghaninnen und Afghanen aus dem Land zu bringen. Die Bundeswehr flog nach eigenen Angaben mehr als 5.000 Menschen aus mindestens 45 Nationen aus. Viele afghanische Ortskräfte, die für die Bundeswehr und andere deutsche Institutionen gearbeitet hatten, wurden allerdings zurückgelassen.