Ludwig Baumann: "Wir wollten einfach leben"

Ludwig Baumann ist der wohl bekannteste Wehrmachts-Deserteur. Der Mann, der 2018 starb, setzte sich über Jahrzehnte für eine Rehabilitation der Deserteure ein. Im Kino dokumentiert ein Film nun seinen Kampf, der die Bundesrepublik verändert hat.

Bremen (epd). Schnee bedeckt die Felder, Eis liegt auf dem Fluss. Die filmische Szenerie treibt den Zuschauenden das Frösteln in die Knochen. Die erstarrte Landschaft steht dabei auch für das Klima der Gesellschaft im frühen Nachkriegsdeutschland, in der Menschen wie Ludwig Baumann als Feiglinge, Drecksäcke und Vaterlandsverräter diffamiert wurden. Wofür der 2018 im Alter von 96 Jahren gestorbene bundesweit wohl bekannteste Wehrmachts-Deserteur wirklich stand, das zeigt nun eine Dokumentation, die am kommenden Sonntag in Bremen Premiere feiert.

Autorin, Regisseurin und Produzentin ist die Bremer Filmemacherin Annette Ortlieb. Die gut 60-minütige Produktion unter dem Titel „Die Liebe zum Leben“ ist für sie eine Hommage an die Menschlichkeit und gegen den Krieg. Hoch aktuell ist sie allemal angesichts der Kriege unter anderem im Nahen Osten und in der Ukraine.

Mit anderen Soldaten desertierte der gebürtige Hamburger 1942 als Marinegefreiter im französischen Bordeaux. Er wurde gefasst, gefoltert und wegen „Fahnenflucht im Felde“ zum Tode verurteilt. Monate verbrachte er in großer Angst in der Todeszelle. Dann wurde das Urteil nach einer Intervention seines einflussreichen Vaters in eine zwölfjährige Zuchthausstrafe umgewandelt. Ludwig Baumann kam ins Konzentrationslager, ins Wehrmachtsgefängnis Torgau und ins Strafbataillon.

Von der NS-Militärjustiz wurden rund 30.000 Deserteure, Verweigerer und „Kriegsverräter“ zum Tode verurteilt und etwa 20.000 hingerichtet. „Der Soldat kann sterben, der Deserteur muss sterben“, zitiert Baumann in der Dokumentation Hitlers Weisung. Deserteure wie Baumann hat der Deutsche Bundestag bis 2009 in drei Etappen rehabilitiert - maßgeblich vorangetrieben durch den Bremer Friedensaktivisten, der auch zu den Mitbegründern der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz gehörte. Spät wurde er dafür geehrt, unter anderem mit dem Aachener Friedenspreis.

„Ich habe Ludwig Baumann Anfang der 1990er Jahre kennengelernt, als ich politische Bildungsarbeit für Zivildienstleistende gemacht habe“, erinnert sich Annette Ortlieb. Erst viel später kam ihr die Idee, mit ihm einen Film zu drehen. Ab 2012 begleitete sie ihn. Damals war er schon über 90 Jahre alt, trat aber immer noch als Zeitzeuge etwa vor Schulklassen auf. Was sie an Baumann faszinierte: „Seine Widerständigkeit, seine Überzeugtheit und seine Vision, dass die Wehrmachtsjustizurteile gegen die Deserteure aufgehoben werden müssen - und welche Kraft er für diesen Kampf entwickelt hat.“

In der Dokumentation erinnert sich der Friedensaktivist an seine Gründe zur Desertion: „Wir wollten keine Verbrechen begehen. Wir wollten einfach leben.“ Später im Film fällt noch ein zentraler Satz, der auch angesichts der aktuellen Forderung von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), Deutschland müsse wieder „kriegstüchtig“ werden, bei vielen Zuschauenden gedanklichen Nachhall finden wird. Baumann sagt: „Wir können aus unserer Geschichte sehen, dass die Soldaten immer dazu missbraucht wurden, alles zu zerstören: fremde Länder, das eigene Land und auch sich selbst.“

Der Film gibt Einblicke in die Tiefen der NS-Militärjustiz, in die ablehnende Haltung gegenüber Deserteuren in der Nachkriegszeit und in die Langsamkeit von politischem Wandel - ein Wandel, den es ohne Ludwig Baumann nicht gegeben hätte. „Ein Deserteur jagt die Politik“, betitelt ihn deshalb 1995 die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“. Und Herta Däubler-Gmelin, damalige SPD-Justizministerin, erinnert sich in der Dokumentation, Baumann sei ein großartiger Kämpfer gewesen: „Toll, dass er mit seiner Bundesvereinigung immer gedrückt und geschoben hat.“

Und trotzdem: Sein Leben ist von den Traumata aus der Todeszelle durchdrungen. „Glück gibt es für ihn nur in wenigen Momenten in der Natur“, so hat Annette Ortlieb den Pazifisten Baumann erlebt. Für die Filmemacherin war es aufgrund seiner traumatischen Erlebnisse nicht einfach, ihm nahe zu kommen. Und doch ist es am Ende auch eine versöhnliche und Mut machende Dokumentation, weil der Deserteur und Friedensaktivist Baumann viel erreicht hat - was der Film symbolisch aufnimmt: Zum Schluss bricht das Eis.