Diplomat: Machtübernahme der Taliban kam schneller als erwartet

Im Untersuchungsausschuss des Bundestags zur Evakuierung aus Kabul im August 2021 war am Donnerstag ein hochrangiger Diplomat geladen. Er sollte Antworten darauf geben, warum afghanischen Ortskräfte nicht rechtzeitig ausgeflogen wurden.

Berlin (epd). In der deutschen Botschaft von Afghanistan waren Diplomaten noch Wochen vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 von einem weiteren diplomatischen wie entwicklungspolitischen Engagement am Hindukusch überzeugt. Der ehemalige Geschäftsträger der Vertretung in Kabul, Gregory Bledjian, sagte bei der Befragung im Afghanistan-Untersuchungsausschuss im Bundestag am Donnerstag, die Arbeitshypothese sei bis zu seiner Ausreise im Juni 2021 gewesen, dass die diplomatische Präsenz auch nach Abzug der internationalen Truppen bleibe.

Vor dem Hintergrund wäre es seinen Angaben nach ein gravierendes politisches Signal gewesen, die afghanischen Ortskräfte auszufliegen. Wie Bledjian erläuterte, hätte Deutschland sein Afghanistan-Engagement einstellen müssen, wenn alle Ortskräfte von Bundeswehr, Entwicklungszusammenarbeit und Botschaft ausgeflogen worden wären. Die Eroberung Kabuls durch die Taliban sei dann aber schneller erfolgt als von ihm erwartet.

Der Afghanistan-Untersuchungsausschuss will unter Vorsitz des SPD-Abgeordneten Ralf Stegner unter anderem herausfinden, wie es dazu kam, dass zahlreiche afghanische Ortskräfte, die für die Bundeswehr und andere deutsche Institutionen gearbeitet haben, beim Truppenabzug aus dem Land zurückgelassen wurden.

Bledjian, der zwischen Mai 2020 bis Mitte Juni 2021 für Sicherheit, Verwaltung und Personal der Botschaft in Kabul zuständig war, sagte, er habe in dem Zeitraum keine einzige Gefährdungsanzeige von einer Ortskraft bekommen. Es habe aber ein erhöhtes abstraktes Gefährdungsniveau gegeben. Das sogenannte Ortskräfteverfahren, über das gefährdete Ortskräfte nach Deutschland geholt werden konnten, sei auf niederschwelliger Arbeitsebene bearbeitet worden. Er selbst sei damit im engeren Sinne nicht befasst gewesen.

In Bezug auf eine mögliche Visa-Vergabe an afghanische Ortskräfte stellte er klar, dass die Botschaft seit einem Anschlag 2017 keine Visastelle mehr gehabt habe und daher schon rein technisch gar keine Visa habe ausstellen können. Ihm sei auch nicht bewusst, ob über die Ortskräfte für deutsche Institutionen Buch geführt worden sei. Mit dem Szenario einer Ausreise von Zehntausenden Menschen sei bis zu seiner Ausreise nicht geplant worden.

Erst mit Amtsantritt der Ampel-Bundesregierung im Dezember des vergangenen Jahres wurden Tausende afghanische Ortskräfte und deren Familienangehörige nach Deutschland geholt.

Der Untersuchungsausschuss will auch die Umstände der militärischen Evakuierungsaktion aus Kabul im August 2021 klären. Die Operation war wegen der schnellen Rückeroberung des Landes durch die radikal-islamischen Taliban nötig geworden. Die Bundeswehr flog nach eigenen Angaben mehr als 5.000 Menschen aus mindestens 45 Nationen aus. Am 27. August 2021 endete nach gut zehn Tagen auch diese heikle Mission.